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Pariser Bilder

Pariser Bilder

Titel: Pariser Bilder
Autoren: Marcel Jouhandeau
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Unordnung und diese Vernachlässigung bedeuten nicht etwa, daß man arm wäre. Man ist nur noch auf gutes Essen aus; alles für den Gaumen. Fast erblindet und mit unempfindlicher Nase, hat man alles übrige aufgegeben. Und der Beweis für meine Behauptung: man verläßt das Haus nur noch, um schlurfenden Schrittes in der Rue Pergolese oder auf dem Boulevard Malakoif die Trottoirs entlang seine Einkäufe zu machen; am linken Arm hängt ein Reisesack des vorigen Jahrhunderts, an dem das Schloß und ein Henkel abhanden gekommen sind, so daß er aufsteht und uns erlaubt, im Vorbeigehen seinen Inhalt zu inspizieren: Frischgemüse erster Wahl, Viktualien von erlesener Qualität. Aber nicht lange geht der Mann seines Weges allein. Bald hat sich eine Frau zu ihm gesellt, kaum weniger alt als er, eine welke Rubensgestalt, hell gekleidet wie er und ebenso ungepflegt. Das Haar bauscht sich noch mit einer gewissen Lockerheit, und etwas Schwerbestimmbares in Haltung und Gebaren läßt noch eine, wenn auch rein körperliche Majestät erkennen. Kaum haben ihre scheußlichen Münder sich vereinigt, nimmt sie an der Seite, wo er nichts trägt, ihren Platz neben ihm ein. Da sie sich, beide kurzsichtig, nicht sehen, schauen sie sich nicht lange an; schließlich gehen sie, Ellbogen an Ellbogen, im gleichen Schritt, mit einem verzückten Lächeln geradeaus blickend. Dieses Lächeln stimmt wahrscheinlich zu einer inneren Vision: sie sehen sich, so wie sie waren, sie betrachten sich, so wie sie sich gesehen und geliebt haben, ein für allemal. Was kümmern sie da ihre faulen Zähne, ihre triefenden Lider, ihr übelriechendes Haar. Nichts kann die Erinnerung entmutigen, die sie aneinander bewahren, nichts die unbesiegbare Zärtlichkeit, der sie sich für alle Ewigkeit geweiht haben. Ihre gegenseitige glückliche Blindheit bewahrt sie davor, Verhängnisse gänzlich wahrnehmen zu müssen, die nur für die Augen der anderen sichtbar sind.
    Verheiratet, er mit einer hilflosen Frau, sie mit einem gebrechlichen Mann, leben sie nur noch für diesen Rest an Liebe, den sie jeden Vormittag spazierenführen, solange sie von einem Laden zum andern, von einem Gehsteig auf den anderen ihre Besorgungen machen. Jeder im Viertel kennt sie, die Händler, die sie bedienen, die Käufer und die Hausmeisterinnen, die sie seit mehr als einem Vierteljahrhundert täglich ihren Tanz aufführen sehen, der sich mehr und mehr verlangsamt, je schwerfälliger der Schritt wird und je weiter die Zeit vorrückt. Sie kennen niemand. Für sie beide ist nur der andere vorhanden.
    Das Wunderbarste ist dann der Augenblick des Abschieds. Er bleibt an der Ecke der Rue Pergolese stehen, wie Tristan auf seinem Felsvorsprung, und Isolde entfernt sich, doch nicht ohne bei jedem Schritt, den sie tut, sich umzuwenden und ihm einen Kuß zuzuwerfen. Tristan winkt mit der Rechten, auch wenn sie schon längst verschwunden ist, so daß die Fußgänger, denen das Viertel fremd ist, unruhig werden und ihn für einen Verrückten halten.

    Ein Kohlenhändler

    Gestern abend hatten wir Freunde zu Besuch, sie verließen uns gegen Mitternacht. Während Elise sie durch den Garten geleitete, schloß ich, allein geblieben, zu ebener Erde die Läden der Räume, die auf die Impasse Malakoff hinausgehen, als plötzlich ein völlig schwarzer Mensch im Finstern vor mir auftaucht. Erschrocken zuerst, wollte ich schon das Fenster wieder schließen, aber seine traurige, seine mehr als traurige, seine verzweifelte Miene beruhigt mich, weckt meine Teilnahme, und ich entschließe mich, ihn anzuhören, was auch geschehen mag. Zuerst fragt er mich, in einem einfältigen Tonfall, der mich verblüf, ob ich ihm nicht einen Winkel im Haus überlassen könnte, um dort zu nächtigen. Dann erzählt er mir, wie seine Frau, die trinkt, ihn verprügelt hat, und daß er, um sie nicht vor seinen Kindern umzubringen, aus dem Haus gelaufen ist, so wie er war, halb nackt, ohne Rock und ohne Geld. »Und so schwarz stehe ich hier vor Ihnen«, setzt er noch hinzu, »weil ich nach der Arbeit noch keine Zeit gefunden hatte, mich zu waschen, als es zwischen uns zu diesem Aufritt kam; ich bin Kohlenhändler von Beruf.« Was blieb mir übrig, als ihm das Nötige zu geben, daß er sich in einem nahegelegenen Hotel ein Zimmer mieten könnte; dabei gab ich ihm die Hand, die er nah an sein Herz zog, bevor er sich plötzlich abwandte, wie einer, der seine Tränen verbergen will. Ich habe ihn niemals wiedergesehen.

    Ein Unfall

    Heute
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