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Palast der Stürme

Palast der Stürme

Titel: Palast der Stürme
Autoren: Alyssa Deane
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dass Collier trotz all ihrer Gebete nicht zu ihr gekommen war, als sie während der anstrengenden und schmerzhaften Geburt nach ihm gerufen hatte. Er war nicht gekommen, als vor ihrer Abreise nach England ein Mann nach dem anderen in das Haus getaumelt kam, um gepflegt zu werden. Er war auch nicht mit Harry zurückgekommen, als dieser beinahe im Kanonenfeuer sein Bein verloren hatte.
    Er war nicht zu ihr gekommen, aber seine Briefe waren eingetroffen. Harry Grovsner hatte sie ihr traurig und mit stummer Anteilnahme überreicht. Alle diese Briefe, auf die Roxane so sehnlich gewartet hatte, waren nun mit einem ihrer Haarbänder zu einem ordentlichen Päckchen verschnürt. Sie hatte sich geschworen, dass sie sie eines Tages lesen würde, aber bisher lagen sie immer noch in einer Schachtel auf ihrer Frisierkommode. Nachts nahm sie sie manchmal heraus und breitete sie auf ihrer Matratze aus, um sie dann ungeöffnet wieder zu verstauen. Sie brachte es nicht über sich, sie zu lesen. Damit würde sie seinen Tod akzeptieren, und das konnte sie einfach noch nicht.
    Roxane wurde plötzlich nervös. Sie stand auf, beugte sich über die Wiege und hob ihr Kind mit der Decke heraus. India weinte nicht; sie wachte nicht einmal auf. Roxane raffte ihren Rock mit einer Hand, damit er nicht über den frisch gemähten Rasen schleifte. Als sie die Treppe hinunterstieg, scheuchte sie die Vögel vom Rasen auf. Der Kinderwagen stand noch auf der Veranda, aber sie eilte rasch ums Haus zu den Hecken, hinter denen die Straße lag.
    Govind würde schon bald mit Sera zurückkommen. Da Sera eine Erziehung genossen hatte, die weit über ihr Alter hinausging, nahm sie nun Unterricht bei einem Lehrer in einem kleinen Landhaus auf der anderen Seite des Dorfs. Roxane würde an der Straße auf sie warten, Sera nach ihrem Tag fragen, mit Govind die Vorratshaltung für den kommenden Winter besprechen und ihn wieder einmal dazu drängen, ihm einen neuen Mantel kaufen zu dürfen. Die kalten Tage waren nicht einfach für einen Inder, der an die Hitze seines Landes gewöhnt war. Oh Gott, bitte nicht, dachte sie. Ich will nicht an ihn denken. Bitte gib mir genügend andere Dinge, an die ich denken kann, nur für eine Weile … nur noch für eine Weile …
    Sie ging durch das Tor auf die unbefestigte Straße und lockerte den Griff um ihr Kind. Das Baby war aufgewacht und wand sich protestierend. Roxane zog ihrer Tochter die Decke vom Gesicht und betrachtete sie. Die winzigen, perfekt geformten Gesichtszüge glichen Collier so sehr …
    Im Augenblick rötete sich jedoch ihr kleines Gesicht vor Anstrengung, und sie stieß einen lauten Schrei aus. Roxane hockte sich neben eine Steinmauer und setzte India darauf, bevor sie die Decke wegnahm und ihre Kleidung zurechtzupfte.
    »Da bist du ja, mein hübsches Mädchen. Ich wusste doch, dass du irgendwo darunter versteckt warst. Tante Sera und Onkel Govind werden bald nach Hause kommen, und wir wollen doch gut für sie aussehen.« Mit beiden Händen zog sie das Lätzchen über Indias Kleid gerade. India zupfte einen Grashalm zwischen den Steinen heraus und hielt ihn ihr mit gebrabbelten Worten entgegen. »Das ist Gras, mein Liebling. Oh nein, nicht essen! Hier, nimm das.« Roxane zog einen glatt geschliffenen Holzring aus ihrer Schürzentasche. Er trug bereits die Abdrücke von mehreren kleinen Zähnchen. Während sich das Baby damit beschäftigte, strich Roxane die zerzausten Locken des Mädchens glatt, zog die Haube aus der Decke und setzte sie India auf den Kopf.
    »Ja, meine Kleine«, gurrte Roxane. »Bis auf deine Augen siehst du aus wie dein Daddy.«
    »Da?«, ahmte India sie nach.
    Roxanes Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. »Ja, Daddy.« Sie nahm India auf den Arm und drehte sich in die Richtung, aus der Sera und Govind kommen würden. Für einen Moment schloss sie die Augen und erforschte ihre Seele. Der Schmerz war noch nicht über sie hergefallen, so wie sie es befürchtet hatte. Also musste sie es noch einmal versuchen.
    »Deinem Daddy würde dein Kleid sehr gut gefallen, India«, sagte sie.
    Sie spürte nur einen flüchtigen Schmerz, mehr nicht.
    »Er liebte die Farbe Blau«, fuhr sie fort.
    Oh Gott, beinahe nichts. Die Zeit war gekommen, sagte sie sich. Jetzt ist es so weit. Du weißt, dass er tot ist. Jetzt musst du es nur noch laut aussprechen.
    Sie schluckte zweimal heftig, und Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen ihr in der leichten Herbstbrise über die Wangen.
    »Col… Collier ist
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