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Palast der Stürme

Palast der Stürme

Titel: Palast der Stürme
Autoren: Alyssa Deane
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seine frühere Kraft und Vitalität noch nicht ganz wiedererlangt, aber es ging ihm viel besser als noch vor drei Wochen. Seine Haut war nicht mehr fahl und trocken, sondern wieder leicht gebräunt. Seine schwarzen Locken waren nicht mehr stumpf, sondern glänzten wieder. Sein Gang war federnd und bestimmt, aber auch von einer beunruhigenden Ruhelosigkeit gekennzeichnet.
    Wie sie wusste, hatte er den ganzen Tag auf einen Gesprächstermin mit Lord Canning gewartet, bis er schließlich am Nachmittag zu ihm gebeten wurde. Als er zum Bungalow der Grovsners kam, um Roxane abzuholen, wollte er nichts über das Thema oder den Ausgang des Gesprächs sagen, aber als er neben Harry den Raum betrat, hatte Roxane bemerkt, dass er sehr angespannt wirkte.
    Roxanes Mund war trocken geworden, und sie hatte Rose einen Blick zugeworfen, um in ihrem Gesichtsausdruck die Bestätigung dafür zu finden, dass Harrys Frau es auch bemerkt hatte.
    »Heute Abend«, hatte Rose ihr zugeflüstert, als sie sich verabschiedet hatten.
    Ja, heute Abend, dachte Roxane jetzt, als sie Colliers wohlgeformtes Profil betrachtete. Heute Abend.
    In den Pfützen auf der Straße spiegelten sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages in immer größeren Kreisen, als Regentropfen von den Blättern hineintropften. Alles roch nass, aber frischer als zuvor, und wurde grün und neu. Die kühleren Temperaturen des Septembers brachten angenehm klare Luft mit sich. Einige Blumen, die den Monsunen getrotzt hatten, reckten hoheitsvoll ihre Köpfe und verströmten ihren Duft in die hereinbrechende Nacht. Alle Farben waren scharf abgegrenzt, und die weißen Lattenzäune erinnerten an das Licht des Monds.
    Das alles unterschied sich sehr von dem, was sie in Delhi hinter sich gelassen und auf ihrem Weg gesehen hatten. Sie betrachtete die von Engländern gebauten Häuser und dachte an die zerschossenen und niedergerissenen Gebäude, in denen sich Menschen zusammengekauert hatten, ohne etwas zu essen, ohne Trinkwasser, tot oder auf den Tod wartend, von Krankheiten oder Hoffnungslosigkeit geplagt, verzweifelt um Rettung oder Hilfe betend. Sie drehte wieder den Kopf, um Collier anzusehen. Der Himmel hinter ihm war grünblau, klar und so schön, dass es ihr beinahe das Herz zerriss.
    Wenn er geht, kann ich es ihm nicht verübeln, dachte sie.
    Am Tor zu Stantons Bungalow trat Collier zur Seite, hielt ihr die hölzerne Pforte auf und ließ sie vorangehen. Er kniff sie sanft ins Kinn, als sie an ihm vorbeiging, und zwinkerte ihr zu.
    Er war ein wenig zerstreut, aber so gut aufgelegt, wie schon seit Wochen nicht mehr – beinahe so, als wäre ihm eine Last von den Schultern genommen worden. Sie begriff, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Was sie ihm heute Abend sagen würde, würde daran nichts ändern. Einen Augenblick lang hasste sie ihn dafür.
    Das Personal der Stantons war auf ein kleines Maß reduziert worden, aber Govind hatte für den Moment die Aufgaben des Butlers übernommen. Er öffnete ihnen die Tür und nahm Roxane den Schal von den Schultern. Nach den Monaten, die sie zusammen verbracht hatten, war er in ihren Augen kein Bediensteter mehr, aber er schien sich in dieser Rolle wohler zu fühlen, und sie versuchte, ihm entgegenzukommen, wann immer sie konnte.
    »Wo ist der Colonel?«, fragte sie.
    »Er ist ausgegangen und wird erst in den frühen Morgenstunden zurückkommen.«
    »Und Sera?«
    »Sie schläft.«
    Roxane nickte und ging zu Unitys Zimmer, das sie sich mit Collier teilte. Der Colonel hatte Unity und Augusta Ende Mai nach England geschickt. Unity hatte sich jedoch geweigert, das Land zu verlassen, bevor sie ein Versprechen von Corporal Lewis bekommen hatte. Der junge Mann hatte dann bei ihrem Vater vorgesprochen und um ihre Hand angehalten. Der Colonel hatte Roxane kurz nach ihrer Ankunft davon berichtet. Wie Roxane von Rose erfahren hatte, waren auch viele andere abgereist, darunter Olivia Waverly und ihr Vater.
    Im Schlafzimmer streifte Roxane das Moskitonetz zurück, setzte sich auf den Rand der Matratze und schleuderte ihre Schuhe von den Füßen.
    »Collier, ich …«
    »Nein«, unterbrach er sie. »Lass mich zuerst sprechen.« Nachdem er die Tür geschlossen hatte, durchquerte er den Raum und kniete sich vor Roxane auf den Boden. Er nahm ihre beiden Hände in seine und betrachtete sie so aufmerksam, als übte deren Form plötzlich eine besondere Faszination auf ihn aus. Dann biss er sich auf die Unterlippe. Das hatte sie bei ihm noch nie
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