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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen
Autoren: Salman Rushdie
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Verwunderung das Spiel gewonnen.
    Stolzgeschwellt ging ich in die Küche, um vor Mrs. Liddell, der langjährigen Haushälterin des alten Troupiers, ein bisschen zu prahlen. Doch kaum war ich eingetreten, da meinte sie: «Sag bloß nicht, dass du gegen ihn gewonnen hast!»
    «Aber ja doch», antwortete ich mit gespielter Lässigkeit. «Ich hab gewonnen.»
    «Großer Gott!», stöhnte Mrs. Liddell. «Dann wird’s jetzt aber was Schönes geben! Du gehst auf der Stelle wieder hinein und bittest ihn um ein zweites Spiel! Und sorgst diesmal, bitte schön, dafür, dass er auf jeden Fall gewinnt!»
    Ich tat, wie geheißen, aber ich wurde nie wieder nach Beccles eingeladen.
     
    Immerhin verlieh mir der Sieg über den Dodo neues Selbstvertrauen am Schachbrett, sodass ich, als ich nach Abschluss der mittleren Reife ins Waverley House zurückkehrte und von Mixed-Up zu einem Spiel aufgefordert wurde (Mary hatte
ihm voll Stolz und mit einiger Übertreibung von meinem Sieg in der Schlacht von Beccles berichtet), sofort sagte: «Aber sicher, von mir aus gern.» Wie lange könnte es denn schließlich dauern, diesen alten Trottel vernichtend zu schlagen?
    Es folgte ein königliches Massaker. Mixed-Up schlug mich nicht nur; er verspeiste mich zum Frühstück, auf beiden Seiten kross gebraten. Ich vermochte es nicht zu glauben – die listige Eröffnung, sein schlagfertiges Kombinationsspiel, die Wucht seiner Attacken gegen meine auf unerklärliche Weise eingeengte, hilflose Position – und bat um ein zweites Spiel. Diesmal führte er mich noch genussvoller vor. Schließlich saß ich gebrochen und den Tränen nahe auf meinem Stuhl. Big girls don’t cry, ermahnte ich mich, aber in meinem Kopf ging der Song weiter: That’s just an alibi.
    «Wer bist du?», fragte ich ihn, jede Silbe schwer von Demütigung.«Der Teufel im Tarnanzug?»
    Mixed-Up zeigte sein breites, dümmliches Grinsen. «Großmeister», gab er zurück. «Lange her. Vor Kopf.»
     
    «Du bist Großmeister?», wiederholte ich, noch immer benommen. Dann fiel mir in einem Augenblick des Schreckens ein, dass ich in einem Buch über klassische Partien den Namen Mecir gelesen hatte. «Nimzo-Indian», sagte ich laut. Er strahlte und nickte heftig.
    «Der Mecir?», fragte ich staunend.
    «Ja, der», antwortete er. Aus seinem schlaffen Altmännermund rann Speichel. Diese menschliche Ruine stand in den Büchern. Er stand tatsächlich in den Büchern. Und konnte selbst mit total kaputtem Hirn noch immer mit mir Schlitten fahren.
    «Nun spiel mit Lady.» Er lächelte. Ich verstand ihn nicht. «Mary Lady», sagte er. «Ja, ja natürlich.»
    Sie schenkte uns Tee ein, wartete auf meine Antwort. «Aber,
Aya, du kannst doch gar nicht Schach spielen», wandte ich verunsichert ein.
    «Lernen, baba», sagte sie. «Was ist es? Nur ein Spiel.»
    Und dann schlug auch sie mich kurz und klein, und auch noch mit Schwarz. Es war ein Tag, den ich weiß Gott nicht als den großartigsten in meinem Leben verzeichnen konnte.
     
     
    8
     
    Aus «100 Most Instructive Chess Games» von Robert Reshevsky, 1961:
     
    M. Mecir – M. Najdorf
    Dallas 1950, Nimzo-Indian Defense
    Den Angriff eines Taktikers abzuwehren kann schwierig sein – den eines Strategen jedoch weitaus schwieriger. Während die Drohungen des Taktikers meist eindeutiger Natur sind, kompliziert der Stratege die Situation, indem er den Gegner im Ungewissen lässt. Er droht zu drohen!
    Nehmen wir zum Beispiel folgende Partie: Mecir postiert einen Springer auf d5, um das Zentrum zu beherrschen. Dann bildet er einen Freibauern am Damenflügel, um seinen Gegner auf dieser Seite zu beschäftigen. Schließlich stiftet er Unruhe auf dem Königsflügel. Was soll der arme, verwirrte Gegner tun? Wie kann er sich gegen alle Drohungen zugleich verteidigen? Wo wird der entscheidende Schlag fallen? Lesen Sie, wie Mecir Najdorf in Atem hält, indem er ständig den Kriegsschauplatz wechselt!
     
    Schach war zu ihrer ganz persönlichen Sprache geworden. Old Mixed-Up, der praktisch keine Worte mehr fand, hatte sich auf dem Schachbrett einen großen Teil jener Artikulationsfähigkeit
und Subtilität bewahrt, die aus seiner Sprache verschwunden waren. Während Certainly-Mary immer mehr dazulernte – und das tat sie für jemanden, der weder lesen noch schreiben, noch den Buchstaben P aussprechen konnte, mit erstaunlicher Geschwindigkeit, wie ich erbittert feststellen musste –, vermochte sie die geistigen Fähigkeiten des reduzierten Maestros, mit
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