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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage
Autoren: Iva Procházková
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Es war ihm wohl gar nicht bewusst. »Ich weiß, dass du es jetzt nicht begreifen kannst, aber lass Zeit ins Land gehen und du wirst sehen …«
    Darek drehte sich von ihm weg und ging zum Haus. Er brauchte keinen Trost, er musste allein sein. Ihm war klar, dass Herr Havlik auch traurig, vielleicht sogar verzweifelt war, aber es nicht zeigte. Er war älter, konnte sich gut beherrschen. Darek hingegen musste seine Gefühle loswerden, sie herausheulen, um nicht zu ersticken.
    Â»Die Zeit heilt alle Wunden, glaub mir«, fuhr Herr Havlik mit tröstender Stimme hinter ihm fort und Darek hatte größte Lust, ihn anzuschreien, er solle doch endlich still sein. Nicht, dass er es ihm nicht glauben wollte, im Gegenteil. Er wusste, dass er recht hatte, und das war das Schlimmste. Natürlich, die Trauer wird mit der Zeit leichter, der Schmerz stumpft ab, der Verstand findet eine Erklärung, die Schuld wird verziehen. Nur Tatsachen bleiben. Mit ihnen weiß sich die Zeit keinen Rat. Zwölf getötete Pferde macht sie auch nicht wieder lebendig. Pferde, die über die Weide laufen können, sich Streicheleinheiten abholen kommen und Darek zum Gruß zuwiehern …
    Â»Iiiaaaah!«
    Er blieb stehen. Das Wiehern kam von irgendwo hinter ihm und klang so echt, so glaubwürdig, dass es sich um keine Täuschung handeln konnte. Wenn das eine Halluzination war, dann sollte er sich untersuchen lassen, denn seine Sinne versagten. Er wandte den Kopf. Herr Havlik stand nicht mehr an der Koppel, sondern vor der Scheune. Er hatte die Krücke nun in der Linken und mit der Rechten versuchte er den Riegel am Scheunentor beiseitezuschieben.
    Â»Haben Sie das gehört?«, rief Darek ihm zu. »Was war das?«
    Da gab der Riegel nach und der Torflügel öffnete sich langsam. Von drinnen leuchtete ein weißer Fleck. Dareks Herz fing an zu pochen. Er trat unentschlossen ein paar Schritte vor, blieb voller Zweifel wieder stehen, zögerte, dann hielt er es aber doch nicht aus und rannte los. Tickst du wieder aus? Es ist ein Traum, Blödmann! Fall nicht drauf rein, schimpfte er mit sich. Er rannte an Herrn Havlik vorbei, stürzte in die Scheune und sah sich mit angehaltenem Atem um.
    Waliserin stand in einer der Boxen. Im Kegel des Lichtes, das durch die Dachluke hereinströmte, glänzte ihr fasttotalweißes Fell wie Silber. Als sie Darek erblickte, schüttelte sie den Kopf und wieherte wieder.
    Â»Waliserin!«, rief er und wartete, dass seine Stimme die Vision zerschlagen würde. Träume zerschlugen sich meist an Geräuschen. »Bist du das?«
    Ungläubig näherte er sich der Stute. Sie streckte ihren Hals, begrüßte ihn mit freundschaftlichem Schnauben und ungeduldigem Hin- und Hertreten. Und das sah alles echt aus. Darek war sich aber immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob er nicht träumte. Er musste sie anfassen. Er kletterte unter dem Latierbaum durch und streckte mit klopfendem Herzen die Hand nach der Stute aus. Seine Finger bohrten sich in die dichte Mähne und ihr feuchter Atem umwehte ihn. Er begriff, dass sie kein Traum war. Sie war lebendig. Aus dem Hechtkopf sahen ihn große, sanfte Augen an, unter der Hand spürte er ihre warme Haut, und als er sein Gesicht an sie drückte, erkannte er den vertrauten Geruch einer frisch abgewischten Schultafel.
    Â»Ach, Waliserin«, flüsterte er, die Kehle schmerzhaft zusammengezogen, den Mund plötzlich voller Spucke. In seiner Nase zwickte es und aus seinen Augen rannen unaufhaltsam Tränen. »Es ist so schön, dass du geblieben bist. So wunderbar!«
    ***
    Die Straße war nach dem Nachmittagsregen noch nass, aber die Wolken waren schon in die Höhe gestiegen und der Wind jagte sie über die Berge. Es dämmerte, in den Ästen schnatterten die Vögel. Darek hörte sie durch das offene Fenster. Er saß am Tisch in seinem Zimmer, stützte seinen Kopf mit den Händen und starrte stumpf auf den FORTSCHRITT. Über den Sommer war die Aufschrift noch mehr verblichen, manche Buchstaben waren schon ganz verschwunden. Bald würde das Dach des Kuhstalls zusammenfallen, der Rest der Mauern von Holunder überwuchert sein und niemand wüsste mehr, was hier einmal stand. Es würde aus dem Gedächtnis des Dorfes schwinden, so wie der Grafenhof. Die Spatzen und Amseln kümmerte es jetzt schon nicht. Sie hoppelten auf dem Geflügelhof herum und versuchten, sich an dem
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