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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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verlegen auf, hob das Telefon im Flur ab und wählte. Vera merkte, dass sie beide den Atem anhielten, und sie spitzte die Ohren, um Emmas Stimme zu hören. Aus der Küche kam eine Handymelodie. Irgendetwas Beschwingtes, das sie kannte, aus einem alten Film.
Der Clou.
Langsam legte James den Hörer wieder auf. «Das ist ihr Handy», sagte er. «Sie hat es hiergelassen. Wahrscheinlich dachte sie, dass sie es im Pub nicht braucht. Sie wusste, dass ich meins dabeihabe.» Er schwieg, versuchte, sich zusammenzunehmen. «Aber bei Dan kann ihr nichts passieren. Schließlich war er Polizist.»
    «Ja», sagte Vera. «Ich weiß.»
    Sie ließ ihn im Captain’s House zurück. Jemand müsse da sein, sagte sie, Emma solle das Haus nicht verlassen vorfinden, wenn sie komme. Dan würde sie bestimmt zur Vernunft bringen, und sie würde sich melden.
    Sie saß im Auto. Sie wusste, dass James sie beobachtete und erwartete, dass sie sofort etwas unternahm. Aus dem Pub kamen Leute, obwohl noch keine Sperrstunde war. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, schwappte ein Schwall Musik heraus wie kalte Luft. Sie wusste nicht, wo sie hinfahren oder was sie tun sollte. Man musste ja auch an das Baby denken. Eine solche Unschlüssigkeit kannte sie sonst nicht, ihre Orientierungslosigkeit jagte ihr Angst ein, die erste Stufe der Panik. Ihr Handy klingelte, und sie drückte auf die Taste, froh, wenigstens kurz abgelenkt zu werden.
    Es war Ashworth. «Sie hatten recht», sagte er. «Aber das haben Sie ja immer.»
    Nein, dachte sie, mein Urteilsvermögen taugt in diesen Tagen rein gar nichts. Ich dachte doch auch, ich würde Dan Greenwood kennen.
    «Wo sind Sie?», fragte sie.
    «Unterwegs zu dem Haus. Das ist doch in Ihrem Sinne, oder?»
    War es das? «Ja.»
    «Treffen wir uns dort?»
    «Ja», sagte sie rasch, froh, dass ihr die Entscheidung abgenommen wurde.
    «Ist alles in Ordnung?»
    «Natürlich», sagte sie. «Natürlich.»

Kapitel dreiundvierzig
    Ashworth wartete an der Zufahrt nach Springhead House in seinem Wagen. Vera hielt in einer Toreinfahrt, die zu einem kleinen Gehölz führte, und ging die Straße hinunterin seine Richtung. Es roch nach nassem Laub und nach Kühen. Sie fühlte sich besser, obwohl die Sorge um Emma in ihrer Magengrube wühlte, ein dumpfer Schmerz. Noch mehr schlechte Nachrichten zu überbringen, das würde sie nicht ertragen. Und sie würde es nicht ertragen, wenn sie sich geirrt hätte. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. Joe hörte Radio.
Classic FM
. Er besuchte einen Abendkurs zum Verständnis klassischer Musik. Sie streckte den Arm aus und schaltete das Radio ab.
    «Und?», fragte sie.
    «Ich habe mit den Nachbarn gesprochen. Zunächst kam nicht viel. Die meisten sind erst da hingezogen, als die Winters schon weg waren. Es ist eine von diesen Nobelgegenden, wo alle viel zu viel zu tun haben und sich nicht darum scheren, was hinter verschlossenen Türen vor sich geht. Große Häuser, riesige Gärten. Dann habe ich eine ältere Dame gefunden, die sie noch kannte. ‹Eine reizende Familie›, hat sie gesagt. ‹Es war so ein Jammer, dass sie wegzogen.›» Er nahm eine Alte-Damen-Stimme an, hoch und dünn, mit gehobenem Akzent. Beim örtlichen Laienspiel wäre er echt gut, dachte Vera. Er könnte die komische Alte geben.
    Joe fuhr fort: «Sie war damals schon Witwe und hat bei den Winters babygesittet, als die Kinder noch klein waren. Bis sie sie nicht mehr darum baten. Das hat sie sehr getroffen, sie hat sich gefragt, ob sie etwas falsch gemacht hat, ob die Kinder sie aus irgendeinem Grund nicht mehr mochten. Es hat sie so beschäftigt, dass sie Mary aufgesucht hat. ‹Natürlich habe ich mir völlig umsonst solche Sorgen gemacht. Eine von Roberts Kolleginnen hatte eine Tochter, die das Geld viel eher gebrauchen konnte. Selbstverständlich haben sie sie statt meiner gebeten.›»
    «Ach», sagte Vera. Ein Seufzer der Befriedigung und Erleichterung.
    «Die Kollegin heißt Maggie Sullivan. Sie haben zu viert zusammengearbeitet. Drei Architekten und jemand für den Bürokram. Der eine Architekt und der Büroleiter waren schon fast in Rente, ein bisschen alt für heranwachsende Töchter, also musste sie es sein. Sie arbeitet immer noch in York. Als ich ihr erklärt habe, weshalb ich da bin, schien sie erleichert zu sein. Sie hat sich schuldig gefühlt, weil sie damals nicht zur Polizei gegangen ist.»
    «Und was genau ist damals passiert?»
    «Robert Winter war ganz besessen von ihrer Tochter. Er hat sie überallhin
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