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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman
Autoren: Silvia Bovenschen
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wollte.
    Ihr Beitrag wurde von Charlotte ignoriert.
    »Bei manchen Hirnschädigungen kann man sich selbst schon zu Lebzeiten nicht mehr an sich selbst erinnern«, sagte sie.
    »Wie wahr«, sagte Johanna, und: »Geht euch das auch so: Ich kann mir bei vielem gar nicht mehr vorstellen, dass es mir einmal so mörderisch wichtig war. Mein Roman zum Beispiel, er ist seit Jahren fertig, irgendwann war es mir nicht mehr wichtig, ob Menschen das lesen oder nicht. Er hätte die Welt nicht verändert. Daran glaubte ich nicht mehr. Und Ruhm – das ist doch lächerlich. Die Bewunderungsmeuten sind launisch: ›Hosianna und Kreuziget ihn‹ – dieses Wechselgeschrei hat sich tausendfach in der menschlichen Geschichte wiederholt.«
    Johannas Gesicht zerfiel, wie das oft ist bei Menschen, die abgründig müde sind.
    Leonie, die das sah, zögerte, aber dann sprach sie doch:
    »Entschuldige bitte, aber ich habe noch eine Frage. Es spielt zwar jetzt keine Rolle mehr, aber es lässt mir keine Ruhe«, sagte Leonie, »wie lautet der letzte Satz deines Romans?«
    »Es sind Zeilen aus einem Gedicht. Leider nicht von mir«, sagte Johanna.
    »Ja, du hast sie einmal aufgesagt. Das war in der Bibliothek. Die Worte haben mich sehr beeindruckt und auch erschreckt, ein Schauder durchlief mich. Ich vermute, dass ich sie aus diesem Grund sofort wieder vergessen habe.«
    Johanna zitierte:
    »›April und Mai und Julius sind ferne / Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.‹«
    »Wenn ich diese Sentenz höre, ist mir, als wäre ich inwendig hohl«, sagte Leonie.
    »Ja«, sagte Charlotte, »es ist die kahlste Absage, die ich kenne.«
    »Ja«, sagte Nadine, »mehr muss nicht gesagt werden.«

    Aber dann sagten sie doch noch sehr viel.
    Es hatte sich schon angedeutet, aber in der folgenden Stunde wurde ihr Gespräch immer bizarrer. Ihre Reden blieben allein sich selbst verpflichtet, allein ihrer Gegenwärtigkeit, dem Moment ihrer Lautwerdung verhaftet. Ein Sprechen ohne Zukunft und daher frei von jeder Nützlichkeit. Eine Frage zielte nicht mehr auf ihre Beantwortung. Die Antworten brauchten keine Fragen mehr. Kein Satz war gedacht für eine Bedeutung über den Moment hinaus. Ein Gesagtes schloss sich beliebig an ein anderes. Da gab es keine Sinnhierarchien. Da war kein geordneter Gesprächsgang mehr, auch keine Themenspur, keine Gedankenfolge, kein Beginn, keine argumentative Verwertung, kein Resümee. Und wenn sich doch eins zum anderen fügte, geschah es mehr oder weniger zufällig. Ein totaler Verzicht auf die Zutaten herkömmlicher Dialoge, auf Logik und Inhalt und Funktion. Sie sprachen das aus, was ihnen gerade durch den Kopf schoss, was ihnen auf der Seele lag – und auf den Seelen lag noch so manches …

    Den Auftakt gab eine Äußerung Nadines:
    »Ich habe gewartet, immer habe ich gewartet, mein ganzes Leben habe ich gewartet, ohne eigentlich zu wissen, worauf. Nur bei meiner Geburt habe ich nicht gewartet. Ich wurde geboren um vier Uhr in der Frühe. Um sieben Uhr öffnete ich die Türe und ging in die Schule.«
    Sie hatte bei dieser Mitteilung heftig gestikuliert. Dabei ging ein Kuchentellerchen zu Bruch.

    Keine der drei Frauen, die diese Erklärung Nadines, zumindest als akustische Lautfolge, vernommen hatte, wollte damit irgendetwas verbinden, keine achtete es, keine reagierte. Aber darauf kam es, wie schon erwähnt, nicht mehr an. Es wurde jetzt gesagt, was noch gesagt werden musste – frei heraus. Während ihrer wirren Reden strichen sie ebenso wirr und ziellos und regelfrei (aufgeregten Krähen gleich) umher (zumindest schien es so), allenfalls dirigiert von einem diffusen Unmut (oder war es gar ein unheiliger Zorn?), und dabei verwüsteten sie willkürlich ihre Umgebung. Anfänglich hätte man noch glauben können, dass diese Verwüstungen versehentlich geschähen – ein Verlust von Balance und Orientierung, dem verstörenden Ereignis (Mord!) geschuldet –, aber nein, nein, sie geschahen böswillig, ja sie geschahen böswillig.
    Besonders befremdlich war, dass die alten Frauen dabei immer wieder lachten. Immer wenn ihnen ein Attentat auf die Raumausstattung gelang – und sie gelangen alle –, lachten sie hell auf.

    »Als Kind saß ich in einem Luftschutzkeller. Über mir zerbarst ein Haus und ging in Flammen auf. Jetzt sitze ich in einer gepflegten Villa. Immerhin: Der Ort ist nobler. Ich war zehn Jahre, als die Bombe auf Hiroshima fiel. Danach begann das große Tralala. Siebzig Jahre Friede und eine stetig
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