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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden
Autoren: Kate Pepper
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grünes, kaltes Wasser, das sich bis ans Ende der Welt zu erstrecken schien. Die zitternde Horizontlinie in der Ferne trennte die granitfarbenen Wellen kaum vom wolkenverhangenen, weißlich grauen Himmel. Und wir hatten die Promenade, auf der es im Sommer von Badegästen und Besuchern des nahegelegenen Vergnügungsparks nur so wimmelte, ganz für uns. Die Stille war wunderbar. Wenn nicht die vielen Gebäude und die Kurven und Loopings der berühmten alten Achterbahn zur Linken gewesen wären, hätte man fast glauben können, wir wären an einem einsamen Strand auf Martha’s Vineyard.
    Ich hielt den Blick nach rechts, aufs Wasser gerichtet. Als mir eine plötzliche Windböe ins Gesicht fuhr und mir fast den Atem nahm, sah ich unwillkürlich zu Rich hinüber, der neben mir ging. Hatte der heftige Windstoß ihm vielleicht weh getan? Es fiel mir schwer, mich nicht ständig um ihn zu sorgen, doch als ich ihn jetzt ansah, verzog sich die unversehrte Seite seines Gesichts zu seinem neuen Lächeln, das mir sagte: «Ich lebe noch, mir geht es gut, also behandele mich gefälligst nicht wie einen Invaliden.» Unter den Kleidern war der Großteil seines Körpers von einer Art fleischfarbener zweiter Haut umhüllt, einem Druckverband, der ihm die Bewegung erleichtern sollte und außerdem das Narbengewebe daran hinderte, einen lebenden Leichnam aus ihm zu machen. Seine Verbrennungen würden sich mit Hilfe von Hauttransplantationen und Physiotherapie irgendwann heilen lassen, das war die gute Nachricht. Doch das alles würde sehr viel Zeit brauchen. Immerhin blieb er in Bewegung, er lebte weiter, hatte gerade wieder mit dem Malen angefangen und wollte im kommenden Herbst auch an die Schule zurückkehren. Nur eines hatte er vorläufig aufgebenmüssen: seine heißgeliebten Reitstunden am Mittwochnachmittag. Doch das war ein geringer Preis für das Leben; und wenn die Reitstunden nicht gewesen wären, wäre er auch tatsächlich ums Leben gekommen, als der sabotierte Gasofen sein Haus in die Luft gejagt hatte.
    Bis heute wussten wir nicht, wie Joe in Richs Wohnung gelangt war – alle möglichen Beweise waren vernichtet worden. Aber das spielte eigentlich auch keine Rolle. Er hatte Rich töten wollen, das wussten wir. Doch nicht einmal Joe konnte alles steuern. Gerade als Rich den Schlüssel im Schloss seiner Wohnungstür drehte, hatte ihn einer seiner Reitschüler entdeckt, der im Park gegenüber spielte.
    «Hallo, Rich», rief der Junge ihm zu. «Könnten Sie uns den Ball zurückwerfen?»
    Rich hatte sich umgedreht und den kleinen Gummiball gesehen, der über das Kopfsteinpflaster des Verandah Place hüpfte.
    «Na klar, David», rief er. Er hatte eine schwere Rolle vorgrundierter Leinwand bei sich, die er auf dem Heimweg erstanden hatte und jetzt an die bereits aufgeschlossene Haustür lehnte. Die schwang genau in dem Moment auf, als Rich sich nach dem Ball umdrehte. Es war das Letzte, woran er sich erinnerte, als er vier Tage später im Krankenhaus das Bewusstsein wiedererlangte. Doch diese Verkettung von Umständen – der Reitschüler, der Ball, die Leinwand – hatte schließlich dazu geführt, dass er ein kleines, aber entscheidendes Stück vom Haus weg gewesen war, als die Tür aufging und die Explosion auslöste. Er war schon einen guten Meter entfernt gewesen, als ihn die Feuersbrunst von rechts erfasste und ihn gut drei Meter auf die Straße schleuderte, während das Haus in Flammen aufging.
    Jetzt ragte ein speziell angefertigter Druckverband aus seinem Hemdkragen hervor, der die rechte Gesichtshälfteund das rechte Ohr bedeckte und in einer Art Kapuze auslief, die für festen Halt auf der verbrannten Haut sorgte. Ich hatte ihm erklärt, der «neue Look» gebe ihm etwas Theatralisch-Geheimnisvolles. Er lebte. Und weil der größte Teil seines Gesichts glücklicherweise unversehrt geblieben war, fiel es mir ganz leicht, nicht jedes Mal, wenn ich ihn ansah, mit dem Schicksal zu hadern. Ich spürte immer noch dieselbe Anziehungskraft, wenn ich bei ihm war: Der «Unfall», wie wir den Vorfall beschönigend nannten, hatte weder unsere Attraktivität füreinander noch unsere Liebe gedämpft.
    So nah am Meer konnte ich das Kontinuum von Vergangenheit und Gegenwart viel besser spüren, denn in diesem Zusammenschluss von Wasser, Sand und Himmel wirkte die Erde zeitlos und gewaltig, und meine eigenen, im Vergleich dazu lächerlich kleinen Erlebnisse wurden wieder in die richtige Perspektive gerückt. Außerdem erinnerte mich der
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