Noah: Thriller (German Edition)
Noah. Ja, ja. Halt die Luft an, das ist jetzt keine schwule Anmache. Das ist die Wahrheit.« Er sah zu ihm hoch, ohne von dem Stiefel abzulassen. »Du bist trainiert wie ein Schwimmer kurz vor den Olympischen Spielen, du hast Hände, die nie hart gearbeitet haben, aber Narben an verschiedenen Stellen deines Körpers. Wenn du auf der Pritsche im Versteck dein Bett machst, gehst du so ordentlich vor wie ein Soldat, der gewohnt ist, Befehle auszuführen, und gleichzeitig steht in deinen Augen eine traurige Melancholie, die einen quasi anschreit: ›Vertrau mir. Ich tue dir nichts.‹ Tja, und so, wie es aussieht, hat Pattrix den Schrei deiner Augen gehört und konnte ihm nicht widerstehen.«
Oscar richtete sich auf und stülpte sich die Handschuhe wieder über. »Und ich kann es offenbar auch nicht.«
Ein Geländewagen rauschte mit überhöhter Geschwindigkeit die Straße hoch und hupte. Angesichts der Tatsache, dass der Feierabendverkehr noch nicht durch war, war erstaunlich wenig los, was wahrscheinlich nicht nur dem schlechten Wetter, sondern auch dieser Grippewelle geschuldet war, von der alle sprachen. Wer nicht unbedingt vor die Tür musste, blieb in den eigenen vier Wänden.
»Ist es noch weit?«, erkundigte sich Noah, der sich mittlerweile fragte, wie es ihm in Oscars Verschlag jemals zu heiß gewesen sein konnte. Ihm wuchsen winzige Eiszapfen am Bart, und er sehnte sich nach den überhitzten, Schleimhaut austrocknenden Temperaturen im Versteck.
Aber da können wir heute Nacht ja nicht hin, weil die Quersumme nicht stimmt, dachte er und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Ein Amnesiepatient und ein Paranoider auf Wandertag.
»Wohin gehen wir überhaupt?«
»Ins Kempinski«, antwortete Oscar. Als Noah nicht reagierte, sah er ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Du kapierst den Witz nicht, richtig?«
»Ist das ein Hotel?«
Oscar seufzte. »Mann, langsam verstehe ich, weshalb sie auf dich geschossen haben. Ja, das ist ein Hotel. Aber die Betten sind mir zu weich, du weißt ja, ich hab’s mit dem Rücken, daher checken wir lieber da vorne ein.« Er zeigte auf ein weit entferntes, beleuchtetes Schild mit einem weißen U auf blauem Hintergrund.
Zehn Minuten später schlugen sie ihr Lager im U-Bahnhof Hansaplatz auf, einem von insgesamt drei Bahnhöfen, die die Berliner Verkehrsbetriebe für Obdachlose öffnete, wenn die Temperaturen unter minus drei Grad fielen.
5. Kapitel
»Drei Bahnhöfe für ganz Berlin«, hatte Oscar geschimpft, als sie den Eingang des Bahnhofs betraten, und dabei auf die vielen Menschen gezeigt, die sich vor den weiß gekachelten Wänden für die Nacht eingerichtet hatten. Die begehrtesten Plätze, also die in den Ecken, die die wenigste Angriffsfläche für betrunkene Jugendliche und andere Schläger boten, waren längst vergeben. Viele von denen, die erst gar nicht ins Asyl gegangen oder dort wegen Alkohol, Drogen, Überfüllung oder sonst einem Grund abgelehnt worden waren, lagen auf umgestülpten Pappkartons, Plastiktüten oder einfach nur auf dem nackten Boden, ließen eine Flasche oder ein Tetrapak kreisen oder versuchten, ein wenig Schlaf zu finden.
Nach einigem Suchen hatten Noah und Oscar einen Platz in dem Seitenarm eines Fußgängerübergangs ergattert, etwas abseits vom Eingangsbereich; eine kleine Nische zwischen einem Zeitungskiosk und einem mobilen Imbissstand, beide waren bereits geschlossen.
»Hätte ich von Anfang an gewusst, dass du heute Abend ein Tierheim eröffnen willst, wären wir gleich hierhergekommen und hätten uns einen der besseren Plätze gesichert«, maulte Oscar zehn Minuten später immer noch. Sie waren gerade dabei, den Boden mit Zeitungen auszulegen, die der Kioskbesitzer am Tage nicht losgeworden war und neben seinem Stand für die Altpapiersammlung bereitgelegt hatte.
»Was ist denn an der Lage hier so schlecht?«, fragte Noah, als sein Begleiter nicht aufhören wollte zu schimpfen. Sie lagen nebeneinander, Oscar hatte sich die Stelle an der Wand gesichert. Immerhin war es hier angenehm warm, in der Nische konnte man sich vor dem allgegenwärtigen Durchzug abschirmen, zudem waren die Rolltreppengeräusche und das Gegröle der Betrunkenen längst nicht so laut wie vorne. Nur das grelle Neonlicht über ihrem Kopf würde das Einschlafen erheblich erschweren.
»Es gibt hier keine Kameras«, antwortete Oscar.
Noah sah ihn fragend an. »Und?«
»Und deswegen sieht es niemand, wenn hier jemand randaliert.« Zum Beweis zeigte er auf ein
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