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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition)
Autoren: Delphine de Vigan
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denke daran, wie er an meinem ersten Schultag war.
    Ich kannte niemanden und hatte Angst. Ich hatte mich nach hinten gesetzt. Monsieur Marin verteilte die Anmeldebögen, Lucas drehte sich nach mir um und lächelte mir zu. Die Bögen waren grün. Die Farbe ist jedes Jahr anders, aber die auszufüllenden Felder sind immer gleich, Name, Vorname, Beruf der Eltern, und dann muss man noch einen Haufen Auskünfte geben, die niemanden etwas angehen. Lucas hatte keinen Stift, also lieh ich ihm einen, ich streckte ihm den Stift entgegen, so weit ich es von meiner Seite des Mittelgangs aus schaffte.
    »Monsieur Muller, ich sehe, Sie sind bestens auf den Schuljahrsbeginn vorbereitet. Haben Sie Ihre Stifte am Strand liegenlassen?«
    Lucas antwortete nicht. Er warf einen Blick in meine Richtung, ich hatte Angst um ihn. Doch Monsieur Marin fing an, die Stundenpläne zu verteilen. Ich war auf meinem Bogen bei dem Feld »Geschwister« angekommen. Null, schrieb ich hin, in Buchstaben.
    Dass man das Fehlen einer Menge durch eine Zahl ausdrückt, versteht sich nicht von selbst. Das habe ich in meinem Wissenschaftslexikon gelesen. Das Fehlen eines Gegenstands oder einer Person lässt sich besser durch ein »gibt es nicht« (oder »nicht mehr«) ausdrücken. Zahlen bleiben abstrakt, und die Null drückt weder das Fehlen noch den Schmerz aus.
    Ich hob den Kopf und bemerkte, dass Lucas mich ansah. Ich schreibe nämlich mit links und stark umgebogenem Handgelenk, darüber wundern sich die Leute immer: so viel Umstand, bloß um einen Stift zu halten. Er sah mich an, als frage er sich, wie etwas so Kleines wie ich es so weit hatte bringen können. Monsieur Marin rief uns alle namentlich auf, dann begann er mit der ersten Stunde. In diesem Moment aufmerksamen Schweigens überlegte ich mir, dass Lucas Muller zu den Menschen gehörte, denen das Leben keine Angst macht. Er lehnte immer noch in seinem Stuhl und schrieb nicht mit.

    Inzwischen kenne ich alle Namen, Vornamen und Gewohnheiten der Klasse, die Sympathien und Rivalitäten, Léa Germains Lachen und Axelles Tuscheln, Lucas’ unendlich lange Beine, die in den Gang hineinragen, Lucilles klimperndes Mäppchen, Corinnes langen Zopf, Gauthiers Brille. Auf dem Foto, das kurz nach dem Schuljahrsbeginn aufgenommen wurde, stehe ich vorn, da wo die Kleinsten immer stehen müssen. Über mir, ganz oben, steht Lucas, er wirkt verdrossen. Wenn es stimmt, dass man durch zwei Punkte eine und nur eine Gerade ziehen kann, dann werde ich irgendwann diese Gerade ziehen, von ihm zu mir oder von mir zu ihm.

N o sitzt auf dem Boden, sie hat sich an einen Pfeiler gelehnt und vor sich eine leere Thunfischdose gestellt, in der schon einige Münzen liegen. Ich habe nicht erst auf der Anzeigetafel nach den Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge geschaut, ich bin direkt zu den Bahnsteigen gegangen, zu der Stelle, an der sie mich angesprochen hatte, ich gehe entschlossen auf sie zu, und dabei bekomme ich plötzlich Angst, sie könne mich vergessen haben.
    »Salut.«
    »Na so was, Lou Bertignac.«
    Sie sagt es überheblich, in dem Ton, in dem man in der Werbung oder in lustigen Sketchen leicht Versnobte imitiert. Fast hätte ich den Rückzug angetreten, aber ich habe ziemlich lange geübt und will nicht gleich aufgeben.
    »Ich dachte, wir könnten irgendwo einen Kakao trinken gehen … oder so … Wenn du Lust hast. Ich lade dich ein.«
    Sie springt auf, schnappt sich ihre Segeltuchtasche, murmelt, sie könne nicht einfach alles so liegenlassen, und zeigt dabei mit dem Kinn auf ein Rollenköfferchen und zwei berstend volle Plastiktüten, ich nehme die Tüten und überlasse ihr den Koffer, hinter mir höre ich ein Danke, ihre Stimme klingt weniger selbstsicher als beim ersten Mal. Ich bin stolz, das getan zu haben, den Anfang zu machen, dennoch habe ich eine Todesangst bei dem Gedanken, ihr gegenüberzusitzen. In der Nähe der Fahrkartenschalter begegnen wir einem Mann in einem langen dunklen Mantel, der ihr ein Zeichen gibt, ich drehe mich um und sehe sie in derselben Weise antworten, mit einer fast unmerklichen winzigen Kopfbewegung, in den Bahnhöfen seien viele Bullen, sagt sie mir als Erklärung. Ich wage nicht nachzufragen, ich sehe mich nach weiteren um, aber ich sehe nichts, man braucht wohl viel Übung, um sie zu erkennen. Als ich in das Lokal neben der Anzeigetafel mit den Abfahrtszeiten treten will, hält sie mich an der Schulter zurück. Da könne sie nicht rein, da sei sie unerwünscht. Lieber sei ihr
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