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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition)
Autoren: Delphine de Vigan
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schloss.
    »In welche Klasse gehst du?«
    »In die Zehnte.«
    »Das ist doch nicht normal für dein Alter.«
    »Äh … nein. Ich hab zwei Klassen Vorsprung.«
    »Und wie kommt das?«
    »Ich hab Klassen übersprungen.«
    »Das hab ich verstanden, aber wie kommt es, dass du zwei Klassen übersprungen hast, Lou?«
    Ich fand, dass sie irgendwie komisch mit mir redete, ich fragte mich schon, ob sie sich nicht über mich lustig machte, aber sie wirkte zugleich sehr ernst und sehr irritiert.
    »Ich weiß auch nicht. Ich hab schon im Kindergarten lesen gelernt, also brauchte ich nicht in die erste Klasse zu gehen, und dann hab ich die vierte Klasse übersprungen. Ich hab mich nämlich so gelangweilt, dass ich mir die Haare um den Finger wickelte und den ganzen Tag daran zog. Nach einigen Wochen hatte ich eine kahle Stelle. Nach der dritten kahlen Stelle wurde ich in die nächste Klasse versetzt.«
    Ich hätte ihr auch gern Fragen gestellt, aber ich war zu eingeschüchtert, sie rauchte ihre Zigarette und musterte mich von oben bis unten, als suche sie nach etwas, was ich ihr geben könnte. Es war still geworden (zwischen uns, meine ich, ansonsten brüllte uns die synthetische Stimme aus den Lautsprechern in die Ohren), daher fühlte ich mich zu dem Zusatz bemüßigt, es sei jetzt besser geworden.
    »Was ist besser geworden, die Haare oder die Langeweile?«
    »Öm … beides.«
    Sie lachte.
    Da sah ich, dass ihr ein Zahn fehlte, und ich brauchte nicht einmal eine Zehntelsekunde für die richtige Antwort: ein Prämolar.

    Mein ganzes Leben lang habe ich mich außerhalb gefühlt, wo auch immer, außerhalb des Bilds, außerhalb des Gesprächs, neben der Situation, als könnte ich als Einzige Geräusche oder Worte hören, die die anderen nicht wahrnehmen, wäre dabei aber taub für die Worte, die die anderen anscheinend hören, als wäre ich außerhalb des Rahmens oder auf der anderen Seite einer riesigen unsichtbaren Glaswand.
    Aber gestern war ich dabei, bei ihr, ich bin sicher, man hätte einen Kreis um uns ziehen können, einen Kreis, aus dem ich nicht ausgeschlossen gewesen wäre, einen Kreis, der uns beide umfing und uns für einige Minuten vor der Welt schützte.
    Ich konnte nicht länger bleiben, mein Vater wartete auf mich, doch ich wusste nicht, wie ich mich von ihr verabschieden sollte, ob ich sie mit Madame oder Mademoiselle anreden sollte oder einfach mit No, ich kannte ja ihren Vornamen.
    Ich löste das Problem mit einem einfachen au revoir, denn ich dachte mir, sie gehöre schon nicht zu den Leuten, die sich über schlechte Manieren und all den anderen Kram aufregen, den man im gesellschaftlichen Verkehr beachten muss. Ich drehte mich noch einmal um und winkte ihr kurz zu, und sie stand da und sah mir nach, es tat mir weh, denn schon an ihrem Blick, an der Leere ihres Blicks, erkannte man, dass sie niemanden hatte, der auf sie wartete, kein Zuhause, keinen Computer und vielleicht auch keinen Ort, an den sie gehen konnte.

    Beim Abendessen fragte ich meine Mutter, wie es komme, dass noch ganz junge Mädchen schon auf der Straße lebten, und sie antwortete seufzend, so sei das Leben nun einmal: ungerecht. Ausnahmsweise hakte ich nicht nach, obwohl die ersten Antworten häufig Ausweichmanöver sind, das weiß ich schon lange.

    Ich sah wieder ihre Blässe vor mir, ihre durch die Magerkeit vergrößerten Augen, die Farbe ihres Haars, ihren rosafarbenen Schal, und stellte mir unter der dicken Schicht ihrer drei Blousons ein Geheimnis vor, ein Geheimnis, das wie ein Stachel in ihrem Herzen steckte und das sie noch niemandem verraten hatte. Ich wäre gern bei ihr gewesen. Mit ihr zusammen. Ich lag in meinem Bett und bedauerte, dass ich sie nicht nach ihrem Alter gefragt hatte. Sie hatte so jung ausgesehen.

    Und zugleich hatte ich den Eindruck gehabt, sie kenne das Leben wirklich, oder vielmehr, sie kenne etwas vom Leben, das einem Angst macht.

L ucas hat sich auf seinen Platz in der letzten Reihe gesetzt. Von meinem Platz aus kann ich sein Profil sehen, seinen trotzigen Gesichtsausdruck. Ich kann sein offenes Hemd sehen, die zu große Jeans, die nackten Füße in den Turnschuhen. Weit zurückgelehnt und mit verschränkten Armen sitzt er auf seinem Stuhl, in Beobachterposition, als wäre er nur zufällig, aufgrund einer fehlerhaften Wegbeschreibung oder eines Irrtums der Verwaltung, hier gelandet. Die Tasche, die neben seinem Tisch auf dem Boden liegt, sieht aus, als wäre sie leer. Ich beobachte ihn verstohlen und
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