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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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vorgesehen. Morgen wird’s klar sein und enttäuschend natürlich auch: Irgendein brach liegender Acker in Belgien oder in der Ukraine wird das meiste abbekommen. Ein Kinderheim bleibt knapp verschont. Das ist dann alles.
    Steff kontrollierte den Sitz seiner Fliege. Damit unternahm er etwas, das passte, weniger zu ihm als zur Fliege. Fliegen sind dazu da, zurechtgerückt zu werden.
    Steff berichtete von Bootsflüchtlingen. Sie fielen über Lampedusa her wie die Piraten. Steff bremste sein Lachen ab, als er merkte, dass Paul nicht mit­lachen mochte. Flüchtlinge überall, seufzte Steff. Auswerten lässt sich da schon lange nichts mehr.
    Dann kam die Frage, die Paul gefürchtet hatte: Die Redaktion erkundigt sich, wann mit dir wieder zu rechnen sei. Wir vermissen dich, Paul. Dein Stuhl ist frei geblieben.
    Paul wusste keine Antwort.
    Steff wartete.
    Lieber nichts überstürzen, sagte Paul schliesslich.
    Steff behauptete, Paul habe sich zu stark in die Menschen eingefühlt, mit denen sein Beruf ihn konfrontierte, und sei dabei selbst in Not geraten.
    Paul schwieg. Ihm wurde klar: Seine Not war eine andere als die der geschundenen Menschen. Er sass am Wegrand und schaute zu, er war gezwungen zu­zuschauen, Stunde um Stunde. Auch vor dem Fernseher musste er sitzen bleiben, wenn er einmal sass.
    Ehrlich, sagte Steff. Am Ende warst du nur noch für Hochzeiten von Prominenten zu gebrauchen, für Scheidungen mit knapper Not, für mutige Feuerwehrmänner, Jubiläen, Auszeichnungen.
    Vielleicht, sagte Paul mit einer fadenscheinigen Stimme, vielleicht suche ich mir was anderes.
    Du gehörst doch zu uns, sagte Steff so bestimmt, dass Paul ihm sofort misstraute.
    Bei allem, was du durchgemacht hast, Paul, muss dir doch eine dickere Haut gewachsen sein, muss doch einfach. Steff lachte.
    Paul sah Menschenkolonnen im Dreck. Sie kamen irgendwo aus dem Trüben und gingen ins Trübe weiter. Karrenräder fanden keinen richtigen Grund mehr. Unter Peitschenhieben bäumte ein schwer bepacktes Maultier sich auf, dabei rutschte die Last zur Seite. Paul sah erschöpfte Kinder, huckepack getragen von erschöpften Vätern, Müttern, Tanten. Einen Jungen, oder war es ein Mann, mit nackten Beinen unter einer im Regen schwerer werdenden Matratze. Die Habe
der Flüchtigen wies auf Zurückgelassenes, Verlorenes hin. Um diese Matratze herum würde sich nicht so bald ein Haus einfinden und um das Haus kein Dorf. Paul sah vergewaltigte Frauen, die sich mit einem Stück ihrer Wäsche das Geschmier der Männer von den Beinen wischten. Besoffene Soldaten mit offenen Uniformjacken hielten sich an ihren Gewehren aufrecht.
    Es gab Momente, kurze, lange, da kam ihm alles verstümmelt vor. Diese Momente entliessen ihn mit schmerzenden Gliedern.
    Lieber nichts überstürzen, wiederholte Paul. Er merkte erst jetzt, dass Steff ihn, aus Ungeduld oder aus Rücksicht, allein gelassen hatte.
    Pauls Vergessen war vermutlich Tag und Nacht am Werk. Er hätte gern gewusst, was es zurzeit gerade in Arbeit hatte. Was fing sich in seinem Gedächtnis zu lockern an, eben jetzt? Paul fiel nur das ein, was darin fest sass, Steff etwa, sein Arbeitskollege. Ihn hätte er ruhig vergessen dürfen, denn er konnte damit rechnen, dass der Mann sich ihm gelegentlich selbst in Erinnerung rief.
    Das Vergessen werkte unter Tag, ohne Zeugen.
    Das Feld des Erinnerten lag da wie eine komplette Welt, die so ziemlich alles enthielt, was er brauchte. Manchmal vermisste Paul einen Namen oder ein Zu­sammenhang fehlte. Als Beate ihn küsste, war sie ganz belebt von dem, was eine vergessene Geschichte hätte erzählen können. Die Frau war ihm wahrscheinlich nie so nah gewesen wie in der Ahnung, die ihre Tränen in ihm weckten. Das Vergessene verschwand
nicht spurlos. Es umgab ihn allseitig und dicht wie die Luft.
    Paul hatte gelesen, wir alle nähmen mit jedem Atemzug etwas auf und gäben etwas her von dem, was je­mals durch eine Lunge ein- und ausgegangen sei, von jedem Seufzer ein paar Moleküle, von jedem Schrei, von allem, was je gesprochen und gesungen wurde. Demnach war die Atmosphäre, in der sich die Moleküle vermischten, eine Art grosses Gedächtnis, das allen offen stand. Nichts ging verloren. Alles Einzelne, man brauchte es nicht wieder zu erkennen,
kam zurück, das wusste man, das meinte man auch zu spüren. Die Luft, die Atmosphäre bewahrte das Blöken des
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