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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord
Autoren: Judith Merchant
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Jahr verschwunden war. Die anderen Zeitungen dagegen scheuten angesichts der Besuchereuphorie sogar den Vergleich mit dem Bernsteinzimmer nicht.
    Die Künstlerin, der das Bild gestohlen worden war, ließ sich nur widerwillig interviewen. Ja, es sei furchtbar, dass die Suche nach dem Original nach wie vor ergebnislos geblieben war. Nein, sie sage nichts zu den Gerüchten, die ihr Gemälde in Zusammenhang mit dem Nibelungenmord sehen wollten. Immerhin sei der Täter ja gefasst worden.
    Im Übrigen arbeite sie gerade an einem neuen Zyklus. Nein, für Interviews dazu stehe sie grundsätzlich nicht zur Verfügung, ihre Galerie halte jedoch alle relevanten Informationen für die Presse bereit.
    Endlich ließ man von der Frau mit dem graumelierten Haar ab und wandte sich jüngeren Künstlern zu, die die Fragen nach ihren Bildern mit wesentlich mehr Enthusiasmus beantworteten.
    *
    Sie hätte nie gedacht, dass sie so leicht auf ihn verzichten kann.
    Vor zehn Monaten ist Michael ausgezogen, Margit weiß nicht, wohin, es interessiert sie auch nicht. Er arbeitet weiterhin in Königswinter, aber sie treffen sich niemals, weder zufällig noch absichtlich.
    Komisch, denkt Margit. Beinahe zwei Jahrzehnte war sie einzig von dem Gedanken beherrscht, dass Michael sie nicht verlassen darf, und nun ist er weg, und ihre Gedanken sind frei.
    Sie tut nicht viel mit ihrer Freiheit. Einmal in der Woche besucht sie Sven in der JVA. Sie bringt ihm Kuchen, den er isst oder nicht, und Zeitschriften, von denen sie nicht weiß, ob er sie liest, denn Sven spricht wenig. Wenn er spricht, fragt er nach Lara. Er wartet noch immer auf ihren Besuch, mit einer Ergebenheit, die Margit schmerzt. Er wird nicht aufhören zu warten, das weiß sie. Trotzdem scheint es ihm nicht schlechtzugehen, manchmal denkt sie, dass er sogar normaler wirkt als früher. Er trägt jetzt normale Kleidung und hat einen normalen Haarschnitt. Draußen auf der Straße würde er jetzt wesentlich weniger auffallen als vorher. Ohne Eltern, gegen die er rebellieren muss, ist er in Windeseile zu einem ganz normalen Jungen geworden, der während der Haftzeit eine Ausbildung machen möchte und Sport treibt.
    Ein ganz normaler Junge, denkt Margit. Nur dass er im Gefängnis sitzt, weil er getötet hat.
    Sie denkt nicht oft daran. Sie quält sich nicht. Sie spart ihre Kraft auf für diese wöchentlichen Besuche. Das Entsetzen darüber, einen Mörder geboren zu haben, soll nicht zwischen ihr und ihm stehen, darum denkt sie nicht daran. Das funktioniert.
    Sie lebt ihr Leben wie vorher auch, nur lebt sie jetzt allein. Sie läuft am Rhein entlang. Sie trifft Freundinnen. Sie geht zum Friseur. Sie wird ihren einundvierzigsten Geburtstag feiern, da ist sie sicher, nur wird er etwas kleiner ausfallen.
    Abends, wenn es dunkel wird, tut sie es manchmal.
    Dann geht sie in ihr Schlafzimmer, zieht die Vorhänge zu, öffnet ihren Schrank. Sie schenkt sich ein Glas Wein ein und wartet, bis ihr Atem sich beruhigt hat. Stellt das Glas auf den Nachttisch, tritt an den großen goldenen Spiegel und hält noch einmal inne, ehe sie den Spiegel herunternimmt.
    Dahinter ist das Bild.
    Da die beiden Frauen links und rechts fehlen, strahlt Michael in vollkommener Schönheit, leuchtet ihr entgegen.
    Sie versenkt ihren Blick in die goldenen Haare, berührt seine bronzene Haut und verharrt zitternd auf seinem flachen Unterbauch.
    Dieses Bild gehört ihr ganz allein.
    Sie kann leicht auf Michael verzichten.
    Auf seinen Anblick nicht.
    *
    Im Nachtigallental ist es still. Kein Vogel singt, kein Windhauch stört das Geflüster der trockenen Buchenblätter. Zwischen den Spitzen des Farnkrauts zittert die Stille, und lockere braune Erde deckt zärtlich die verschlungenen Wege.
    Von dem Drachen tief unter dem Berg spürt man nichts, hier, im idyllischen Nachtigallental.
    Er schläft.
    Aber vielleicht wird er bald schon erwachen. Vielleicht wartet er nur darauf. Vielleicht lauscht er im Schlaf und lauert darauf, dass wieder Blut vergossen wird und den Boden dieses bösen alten Berges netzt. Der Geruch des Blutes wird ihn wecken.
    Dann wird er kommen.

Bonusmaterial

Ein Interview
mit
Judith Merchant

Foto: © Atelier Herff / Bonn
    Wann und wie haben Sie festgestellt, dass Sie ein Talent zum Schreiben haben?
    Ich habe als Kind leidenschaftlich gern geschrieben. Im Teenageralter wurde ich dann eine sehr kritische Leserin und fand alles, was ich produzierte, grauenhaft. Darum habe ich das freie, erzählende Schreiben aufgegeben
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