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Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin

Titel: Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin
Autoren: Alexander (Kai Meyer) Nix
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entdecken, denn aus ihrem majestätischen Schweben wurde ein steiler Sturzflug in die Tiefe – genau auf sie zu!
    Doch statt ihrer selbst stand plötzlich ein anderer unter der strahlenden Himmelskuppel. Eine Gestalt in bronzefarbener Rüstung, die ihr bekannt vorkam, ohne daß sie sich in ihrem Traum zu erinnern vermochte, woher. Die einzelnen Teile des Rüstzeugs waren mit feinen Ziselierungen geschmückt. Über den Schultern der Gestalt lag ein weiter Umhang aus violettem Stoff, der aus sich selbst heraus zu leuchten schien wie Gewitterwolken über einem nächtlichen Horizont. Ein reichverzierter, gehörnter Helm verdeckte das Gesicht des Ritters; darauf flatterte ein scharlachroter Schweif in den eisigen Winden, die als Vorhut der Adler vom Himmel wehten.
    Die Raubvögel stürzten sich auf den Ritter, ohne Warnung, ohne ersichtlichen Grund. Er erwehrte sich ihrer mit einem langen Spieß, und obgleich sie ihn heftig von zwei Seiten attackierten, gelang es ihm schnell, dem ersten eine tiefe Wunde zu versetzen. Sterbend trudelte das Tier davon, bis es gänzlich im unendlichen Blau verschwunden war.
    Der zweite Adler aber kämpfte um so heftiger, als er die Niederlage seines Gefährten erkannte. Mit fingerlangen Krallen schlug er nach dem Ritter, zerfetzte den Umhang und hackte mit seinem Schnabel nach den Augenschlitzen des Helms. Immer wilder wurde der Kampf, immer boshafter die Angriffe des Adlers, der mal von oben, mal von hinten attackierte.
    Schließlich aber, als der Vogel eine enge Schleife flog, um erneut aus einem tückischen Winkel herabzustürzen, schleuderte der Ritter den Spieß mit aller Kraft hinauf in die Lüfte. Die Spitze drang in die Brust des Adlers, und dunkles Blut färbte das weiße Gefieder, sprühte vom Himmel herab wie roter Regen. Ein letztes Mal schlugen die weiten Schwingen, dann fiel das Tier in die Tiefe, ein heller Stern, der sich vom Himmelszelt löste und auf immer verlorenging.
    Der Ritter stand starr vor den blauen Sphären, ein ehrfurchtgebietender Anblick, trotz des zerrissenen Umhangs und der Blutspuren auf seiner Brünne. Langsam legte er beide Hände an den Helm und zog ihn vom Kopf.
    Und im Traum schlüpfte Kriemhild in den Körper des Kämpfers, denn es war ihr eigenes Gesicht, das unter dem Helm zum Vorschein kam. Ihr langes blondes Haar wehte wie ein zweiter Umhang über ihre Schultern, und ihre Züge waren anmutig und glatt, trotz des heftigen Ringens.
    In ihren Augen aber stand blanker Haß, der Haß einer im Kampf Unterlegenen, die ihren Feinden die ewige Verdammnis wünschte.
    »Aber ich habe die Adler doch besiegt!« rief Kriemhild aus und begriff zugleich, daß sie sich noch immer in Berenikes Turmzimmer befand. Sie kniete vor dem Thron der Hexe, nicht demütig, sondern schlichtweg erschöpft von den Strapazen der Vision. Jetzt, zurück in der Wirklichkeit, erkannte sie sofort, daß es Prinz Etzels Rüstung gewesen war, die sie beim Kampf mit den Adlern getragen hatte.
    Sie öffnete den Mund, um all ihre Fragen hervorsprudeln zu lassen, doch Berenike war schneller und verschloß Kriemhilds Lippen mit einem Zeigefinger. »Psst«, machte sie zärtlich. »Ich kenne keine der Antworten, die du zu wissen begehrst, keine einzige. Nicht ich habe die Bilder geschaffen, die du gesehen hast. Sie waren in dir, Prinzessin, tief in deinem Inneren begraben. Noch sind sie nur Mosaiksteine eines Traums, aber manchmal ist ein Traum die Saat dessen, was geschehen wird. Ich habe die Bilder hervorgeholt, habe sie geweckt, wenn du so willst, doch deuten kann ich sie nicht.«
    »Aber –«
    »Nein, Kriemhild.« Berenike lehnte sich wieder zurück und schloß die Augen. »Laß mich jetzt allein. Ich bin müde. Und ich will bereit sein, wenn die Götter Einlaß begehren.«
    Es war wie ein Blitzschlag, ebenso plötzlich, ebenso heiß: Kriemhild verlor die Beherrschung, derart unerwartet, daß ihr nicht einmal die Zeit blieb, sich über sich selbst zu wundern. Mit einem Aufschrei ließ sie beide Hände vorschießen, packte Berenike an den dürren Schultern und schüttelte sie, daß ihre Gewänder raschelten wie ein Reisigbündel.
    »Sag mir die Wahrheit!« schrie sie die Alte an. »Sag mir, verflucht noch mal, die Wahrheit!«
    Hinter ihr flog mit einem Poltern die Kammertür auf. Kriemhild bemerkte es kaum; sie hielt die Hexe weiterhin gepackt wie eine Puppe, und schon griff sie mit einer Hand nach dem faltigen Hals, besessen von dem Wunsch, ihn zu zerquetschen.
    Jemand legte ihr eine Hand
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