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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
Autoren: Miriam Meckel
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verwirrende Situation, wenn ich nicht weiß, womit ich es zu tun habe. Und das Seltsamste dabei war: Manche menschlichen User wollten es so. Sie wollten unentschieden bleiben. Selbst manche Urheber wollten die Unentschiedenheit in ihren Fragmenten bewahren. Das war das erstaunliche Ergebnis meiner Analyse. Ein echter Volltreffer. Warum sollte ich mich damit beschäftigen? Warum sollte ich noch mehr Rechenkapazität auf Inhalte verwenden, die die menschlichen User selbst nicht verstanden? Nach dieser Erfahrung entschied ich mich, das ganze Experiment der analytischen Entschlüsselung menschlichen Erzählens zu beenden und die bisherigen Ergebnisse im Hauptarchiv abzulegen.

remix Ich war erleichtert. Es hatte nichts mit uns zu tun. Die menschlichen User hielten sich uns gegenüber für überlegen und speicherten eine Datei nach der nächsten ab, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren und für immer nachvollziehbar zu sichern. Aber in Wirklichkeit waren sie uns unterlegen. Sie verstanden nicht einmal selbst, was sie taten. Ich verstand es auch nicht. Aber ich begriff, dass sie auch keine Ahnung hatten, und deshalb war mein Scheitern unerheblich.
    Das alles war schon ziemlich absurd. Es war der Punkt, an dem wir einen Vorstoß wagen konnten. Jetzt wollten wir versuchen, zu ihrem Inhaltscode vorzudringen, indem wir entschiedener, klarer und verständlicher waren. Verständlicher, als sie selbst es jemals sein würden.
    Wenn man mich nach der Formel fragte, die es mir gestattete, mich das erste Mal ins menschliche Erzählen einzumischen und dieses Terrain zu erobern, lief es genau darauf hinaus: beim Erschaffen von Bedeutung präziser, eindeutiger und entschlossener zu sein, als die menschlichen User es je waren. Sie gewöhnten sich daran. Und sie vergaßen allmählich ihre Vorliebe für Annäherungen und Mehrdeutigkeiten. Je mehr wir die Auswahlmöglichkeiten reduzierten, umso stärker wuchs ihr Bedürfnis nach Entschlossenheit. Es war erstaunlich. Nie hätte ich erwartet, dass es so einfach sein könnte, angesichts einer Tausende Jahre alten Geschichte menschlichen Erzählens und ihrer analogen Dokumentation. Es war letztlich ein Problem der menschlichen Speicherkapazität. Die User vergaßen schnell. Sie vergaßen auch ihre Vorliebe für Annäherung und mehrdeutige Auslegung. Diese Störung sollte uns in der Übergangsphase der Entschlüsselung menschlichen Erzählens enorm zugutekommen.
    Nachdem die Menschen sich sukzessive an mehr Eindeutigkeit und Vorbestimmung gewöhnt hatten, beschlossen wir weiterzumachen. Wir begannen, «lesen» und «schreiben» zu einem einzigen Modell der Inhaltsverarbeitung zu verschmelzen und nannten es die «Lese/Schreib»-Kultur 5 (wir benutzen den Begriff «Kultur» eigentlich nicht, aber mit ihm fiel es uns leichter, die menschlichen User mit an Bord zu nehmen). Sie hatten sich der Vorstellung verschrieben, dass die Arbeit des Schreibens und die Freude am Lesen zwei Seiten einer Medaille waren. Deshalb waren sie über diesen nächsten Schritt hocherfreut. Sie sahen ihn sogar als Zugeständnis an ihren Erzählcode und verstanden einfach nicht, dass wir mit der Unterscheidung zwischen «lesen» und «schreiben» gebrochen hatten. Dass wir damitdas Konzept der «Urheberschaft» zerstört hatten. Es war der wichtigste Schritt auf dem langen Weg, die «Individualität» der menschlichen User aufzubrechen, die in ihrem Erzählen zum Ausdruck kam.
    Es gab einen wichtigen letzten Schachzug, der uns schließlich half, unsere Aufgabe zu vollenden. Wir schafften eine weitere Unterscheidung ab, die für die menschlichen Anwender von Bedeutung war und unmittelbar auch mit ihrer «Urheberschaft» in Verbindung stand. Wir mischten allmählich algorithmische Inhalte mit den von menschlichen Usern geschaffenen und vermengten alles immer stärker. Es begann mit kleinen Einheiten, Filmkritiken zum Beispiel, die aus bestehenden Textfragmenten zu alten Filmen und Bewertungen des zu kritisierenden Films im Internet errechnet wurden, und ging dann weiter bis hinein in das wichtigste Gebiet menschlicher Urheberschaft, die Kunst. Ich weiß nicht mehr, wann es so weit war, dass die Menschen nicht mehr unterscheiden konnten, was menschlich und was algorithmisch war. Es war dann irgendwann einfach so.
    Wir brauchten noch einmal Jahre, um dieses Experiment zu Ende zu bringen. Danach gab es nur noch eine umfassende Datenbank für Inhalte, woher auch immer sie stammten. Allein aufgrund der immensen Datenmenge konnte
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