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Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)

Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)

Titel: Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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betreten, seit Dirk hier Einzug gehalten hatte. In letzter Zeit sprach ich mit niemandem; tagsüber ließ ich die Rollläden unten, döste oder blätterte in meinem Pschyrembel, und nachts ging ich spazieren, manchmal sogar ohne Sonnenbrille, und spürte die kühle samtige Luft an der Haut.
    Claudia schien es nicht zu stören. Morgens hatte sie es eilig, und abends war Dirk da. Dazwischen arbeitete sie wie ein Tier. Dirk war mindestens zehn Jahre jünger als sie, ein Mann, der leicht debil aussah, aber laut Claudia hochbegabt war. Ich fragte mich, was ein Erwachsener mit seiner Hochbegabung anfangen sollte. Ob da nicht andere Werte langsam wichtiger wären, eine geräumige Wohnung mit Parkett und Kamin zum Beispiel. Ich fragte Claudia. Claudia sagte, ich müsse mir um Dirk keine Sorgen zu machen.
    Das war unser vorerst letztes Gespräch zu diesem Thema gewesen.
    »Mein Sohn hat schlechte Laune«, hatte Claudia an unserem ersten Abend zu dritt einen Tick zu laut zu Dirk gesagt. Dirk hatte zurückgefragt, was ich gegen meine Depressionen täte. Ich hatte meine Zimmertür zugeschlagen. Sollte er ruhig denken, dass ich nicht nur depressiv, sondern auch gewalttätig war.
    Der Pschyrembel lag auf Claudias Nachttisch neben einem dicken Buch, das eine Frau mit hochgestecktem Haar und schönem Hals zeigte. Unter dem Pschyrembel lag noch ein dünnes, ich nahm es in die Hand. Es ging um die posttraumatische Belastungsstörung bei Jugendlichen. Ich legte es zurück. Dann überprüfte ich, ob meine Lesezeichen im Pschyrembel noch am richtigen Platz waren. Es war nicht Claudias Art, ungefragt in meinen Sachen zu stöbern. Ich war bereit, so großzügig zu sein: Vielleicht wollte sie einfach nur nachschlagen, ob eines ihrer Muttermale wie ein Melanom aussah.
    Ich stellte den Pschyrembel zurück in mein Regal und googelte den Guru. Ich hätte seinen Namen gern vergessen, aber er hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt, also googelte ich ihn. Ich wollte sehen, ob er nicht zufällig ein Kindermörder war, nach dem seit Jahren gefahndet wurde. Ich fand aber keine Hinweise darauf. Er hatte bei einem freien Theater den gestiefelten Kater gespielt und ein Buch über Erleuchtung beim Wandern geschrieben. In der Kurzbiografie zum Buch stand, dass er Kindergärtner gewesen war und eine tödliche Krankheit besiegt hatte. Sein Facebook-Profil war nicht öffentlich. Als Kursleiter war er auch noch nicht groß in Erscheinung getreten, selbst unsere kleine Selbsthilfegruppe konnte ich in keinem Verzeichnis des Familienbildungszentrums finden.
    Ich gab JANNE in die Suchmaske ein. Klickte auf Videos. Und blieb bis zum Abend vor dem Bildschirm hängen.

          Als es am nächsten Freitagmittag klingelte, lag ich ausgestreckt auf meinem Bett und rührte mich nicht. Ich sah den Fischen im Aquarium zu und stellte mir vor, ich wäre einer von ihnen, zum Beispiel dieser fette, hässliche Wels, dessen ganzer Lebensinhalt es war, einen runden Stein abzulutschen. Er war so beschäftigt, dass er vor lauter Lutschen auch den Weltuntergang nicht mitgekriegt hätte. Darum beneidete ich ihn.
    Claudia war in der Kanzlei. Ob Dirk auch Arbeit hatte, hatte ich noch nicht herausgefunden. Jedenfalls schlich er gerade einmal nicht durch unser Haus. Briefträgern öffnete ich grundsätzlich nicht. Claudias Post ging meist ans Büro, und mir schrieb längst keiner mehr. Dafür hatte ich nicht einmal etwas Besonders tun müssen, außer die Annahme der unzähligen Beileidsbriefe und Genesungskarten zu verweigern, die der Postbote vor einem Jahr in großen Stapeln aus seiner Tasche geholt hatte.
    Es klingelte Sturm.
    Ich schob die Füße in die Pantoffeln und ging runter, um die Klingel abzuschalten. Hinter dem Milchglas der Eingangstür bewegten sich mehrere Schatten.
    Zeugen Jehovas, dachte ich, angetreten zur Gruppenvergewaltigung.
    Jetzt schlugen sie auch noch an die Tür.
    »Ich ruf gleich die Polizei«, brüllte ich. »Man merkt doch, dass keiner zu Hause ist.«
    Jemand presste seine Nase gegen das Glas. Sah aus wie eine Schweineschnauze, grotesk verzerrt und vergrößert. Die Faustschläge hallten dumpf durch das ganze Haus.
    Okay, dachte ich. Ihr habt es so gewollt.
    Ich ging abgewandt am Flurspiegel vorbei, legte die Hand auf die Türklinke. Schloss mit der anderen Hand auf. Riss die Tür auf und trat in die Sonne.
    Wie erwartet, wich einer von ihnen zurück und stolperte über seine eigenen Füße. Der andere rührte sich nicht. Ich hatte das Gefühl,
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