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Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)

Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)

Titel: Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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ja alle da.«
    »Wo sind eigentlich die Trommeln?« fragte Kevin mit dünner Stimme.

    Friedrich war der Einzige, der sich angemeldet hatte, um, wie er sagte, Kontakt zu anderen Behinderten zu bekommen. Der Guru schaukelte auf den Hinterbeinen seines Stuhls und ließ ihn erzählen. Beim Sprechen ließ Friedrich seine kleinen braunen Augen ausgerechnet auf mir ruhen. Ich schlug die Beine übereinander, nahm den Hut ab, setzte ihn auf das Knie und strich mir die Haare glatt. Sie waren nicht nur seit einer Ewigkeit nicht mehr geschnitten worden, sondern auch seit einer halben Ewigkeit ungekämmt. Meine Finger verfingen sich in den verfilzten Strähnen. Als Friedrich zu beschreiben begann, wie seine inneren Organe sich aufgrund einer Autoimmunerkrankung auflösten und dass er nicht mehr lange zu leben habe, wurde mir übel.
    Friedrich zählte freudig die Medikamente auf, die er täglich nahm. Sie hatten komplizierte, poetische Namen, die er sichtlich gern aussprach.
    »Hör auf«, sagte Janne, als er beim vierten angekommen war. »Das interessiert hier keinen.«
    Friedrich verschluckte sich. Er vergaß, den Mund zu schließen, und kaute noch eine Weile an der Luft herum.
    »Wir sind doch zum Reden da.«
    »Aber doch nicht mit dir«, sagte Marlon.
    Kevin begann schon wieder zu zittern.
    Der Guru räusperte sich und drehte sich plötzlich zu mir.
    »Sag mal, Mark.«
    »Marek.«
    »Sag mal, Marek. Vor einem Jahr war doch diese Geschichte mit dem Kampfhund in der Zeitung, der einen Jungen angegriffen hat.«
    »Echt?« sagte ich. Zum ersten Mal schaute mich Janne länger als eine Viertelsekunde an. Für eine weitere Viertelsekunde hätte ich mir vermutlich das Ohr ganz abbeißen lassen müssen.
    »Ja bitte?« sagte ich in ihre Richtung.
    »Ich frag mich nur …«, sagte der Guru. Alle schienen zu lauschen, seine Stimme hallte durch die atemlose Stille, und mir kribbelte der Rücken. Ich wollte nicht, dass sie mich anstarrten. Das taten sowieso alle, aber hier sah ich es nicht ein. Selbst der blinde Marlon hatte sich mit seinem linken Ohr zu mir gedreht und wirkte plötzlich hoch konzentriert.
    »… ob du uns davon erzählen möchtest«, sagte der Guru.
    Ich war auf so viel Dreistigkeit nicht vorbereitet gewesen.
    »Ich erinnere mich auch«, sagte Richard. »Das war so groß in den Zeitungen, und sie hatten auch ein Foto von ihm abgedruckt.«
    »Welches Foto? Davor oder danach?« fragte Marlon.
    Ich musste irgendwas tun, mich irgendwie ablenken, um nicht den Stuhl unter ihm wegzureißen. Also stand ich auf und verließ den Raum, und es war mir egal, ob Janne mich dabei endlich etwas länger anschaute.

    Ich ging über die Straße, an all den beleuchteten Einzelhändlern und Kneipen vorbei, und in meinen Augen brannte es. Das tat es häufiger, und es war lästig. Ich wischte mit den Fingern unter der Sonnenbrille, aber das Brennen ließ nicht nach. Ich hätte mir die Brille abnehmen müssen, um mir mit einem Papiertaschentuch das Gesicht abzutrocknen, aber überall waren Menschen. Eine Grundschulklasse zog lachend und schnatternd an mir vorüber. Die meisten von ihnen gingen mir bis zum Bauchnabel.
    Sie sahen mich nicht an, weil ich mich außerhalb ihres Blickwinkels und damit auch ihrer Welt befand, aber ich spürte es schon.
    Wenn ich irgendwo auftauchte, änderten die Leute ihre Wege. Je voller es war, desto klarer wurden die Muster. Wo vorher Chaos geherrscht hatte, gab es auf einmal geregelte Bahnen, die alle nach einem sternartigen Schema das Ziel hatten, möglichst unbeschadet und mit maximalem Abstand an mir vorbeizukommen. Ich fühlte mich wie eine Knoblauchzehe auf einer Ameisenstraße. Wahrscheinlich bekamen die Leute das alles nicht richtig mit – ihr Unterbewusstsein veränderte ihre Umlaufbahn so nervenschonend, dass sie nie erfuhren, was ihre innere Unruhe ausgelöst hatte und welcher Gefahr sie entgangen waren.
    Ich änderte meinen Kurs ebenfalls. Ich ging ins erste Eiscafé, das ich sah. Ich hatte noch nie gern Eis gegessen, aber gleich am Eingang war die Toilette. Ich glitt hinein und schloss ab. Ich machte das Licht aus und nahm die Sonnenbrille ab. Ertastete mit der Hand das Waschbecken. Dachte an Marlon und an seine Frage. Davor oder danach?
    Ich hatte mich auf das Waschbecken gestützt, und die Tränen tropften auf meine Hände. Weinen war völlig unsinnig; aber wenn meine Augen so juckten und brannten, floss es von alleine. Ich fand den Wasserhahn und drehte ihn auf, spritzte mir kaltes Wasser ins
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