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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
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lächelte der Alte still in sich hinein. Ein Hauch von Stolz blitzte in seinen Augen auf. »Grüne Teufel haben uns die Engländer im Krieg genannt. Wir waren verdammt stolz auf unseren Spitznamen.«
    Einmal mehr leckte die feine rosafarbene Zungenspitze nach dem flaschengrünen Bleistift. Dann wandte er seinen Blick wieder mir zu, und das Lächeln in seinen Zügen erlosch. »Doch um auf Sie zurückzukommen, Herr Gorresberg: Professor Sänger hat mir versichert, dass Sie im günstigsten Fall noch drei Tage zu leben haben. Und es steht zu befürchten, dass Sie schon bald nicht mehr in der Lage sein werden, sich noch artikuliert auszudrücken.«
    Ich bemühte mich wirklich darum, dem Alten kein Wort zu glauben, und wenn er es mit noch so großem Ernst und ohne ein verräterisches Wimpernzucken vortrug. Trotzdem fühlte sich mein Magen an, als würde er in diesem Augenblick zu einem stacheligen Klumpen zusammenschrumpfen, der seinerseits meine Gedärme schmerzhaft zu einer breiigen Masse zusammenquetschte. Natürlich hatte das grauenhafte Experiment, das Ellen offenbar an sich selbst durchzuführen gezwungen worden war, mich bereits das Schlimmste erahnen lassen. Nun aber begann das Gefühl von Gewissheit an der Ahnung dessen, was mit mir geschehen würde, zu nagen.
    »Hat Ihnen denn niemand gesagt, wie krank Sie sind?«, fragte der Advokat, der den Wandel meiner Mimik aufmerksam verfolgt hatte. Er schaffte es tatsächlich, ein wenig betroffen auszusehen, während er diese Frage aussprach.
    »Soll ich ermordet werden?«, fragte ich. »So wie die anderen?«
    Von Thun sah mich indigniert an. Er schürzte die Lippen, gab dabei erneut ein schmatzendes Geräusch von sich und bedachte mein Gesicht auf diese Weise wieder mit einem feinen Nieselregen aus streng riechendem Speichel. »Sie doch nicht, Herr Gorresberg«, antwortete der Alte schließlich. »Sie wissen doch, dass Sie immer schon der besondere Liebling des Professors waren.«
    Ein eisiger Schauer rann mir den Rücken hinab. Ich konnte mich nicht entscheiden, was mich nun mehr erschrecken sollte: die Tatsache, dass auch der Advokat so tat, als ob Professor Sänger mich bereits seit langer Zeit kannte, obwohl ich mich nach wie vor beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, dem Professor je zuvor irgendwo begegnet zu sein, oder aber der Umstand, dass dieser wie ein harmloser, verwirrter Großvater wirkende Mann nicht den leisesten Versuch machte zu verbergen, dass Mord zum Geschäft des greisen Wissenschaftlers gehörte.
    »Hatten Sie in letzter Zeit häufig Kopfschmerzen?«, wiederholte der Advokat die Frage, die ich gerade unbeantwortet gelassen hatte. Dieses Mal hörte ich etwas Lauerndes aus seinem Tonfall heraus. Der Alte wartete nicht wirklich auf eine Antwort, weil er sie bereits kannte.
    Ich spürte es ohne Zweifel. Von Thuns Augen fixierten mich, und in diesem Moment fühlte ich mich wie der Angeklagte, der dem Staatsanwalt Rede und Antwort auf scharfe, hinterlistige Fragen stehen musste. Wahrscheinlich lag genau das in seiner Absicht. Er musste jahrzehntelang Erfahrungen in den verschiedensten Gerichtssälen gesammelt haben.
    »Was wissen Sie darüber, von Thun?«, fragte ich.
    »Ich habe Bilder gesehen«, antwortete der Alte ruhig.
    Auf einmal hatte ich wieder das seltsame Gefühl, dass sich irgendetwas in meinem Kopf regte, etwas, das nicht dort hingehörte, sondern sich ungefragt hinter meiner Stirn eingenistet hatte. Ich musste an die Forschungssammlung zurückdenken, an all die geschwürverpesteten Hirne in den gläsernen Zylindern. Stopp, ermahnte ich mich selbst.
    Ich durfte mich nicht von diesem klapprigen Greis verrückt machen lassen. Da war nichts. Dieses Gefühl war nichts als pure Einbildung, ausgelöst durch das Gerede des dürren Alten, der seinen Speichelfluss nicht optimal unter Kontrolle hatte und mich beim Sprechen andauernd voll sprühte. Seine Worte beflügelten allerdings weiter meine Phantasie, die in dieser Nacht bereits viel zu oft mit mir durchgegangen war. Ich hatte mir alle möglichen Dinge schon viel zu lebhaft vorgestellt, so plastisch, dass sich manchmal die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit verwischt hatten. Ich durfte mich nicht in die Irre leiten lassen.
    »Was für Bilder?«, fragte ich, war mir aber gar nicht sicher, ob ich die Antwort auf diese Frage überhaupt hören wollte. Befand ich mich nicht gerade in dieser Sekunde zufällig selbst in einer Kammer, die anscheinend einen Überwachungsraum darstellte,

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