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Nathan der Weise

Nathan der Weise

Titel: Nathan der Weise
Autoren: Textausgabe + Lektüreschlüssel
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allen Mitteln seine Überzeugung durchsetzt. Er neigt zum Fanatismus und überschreitet wissentlich die Grenzen von Recht und Moral, wenn er dazu auffordert, den Sultan umzubringen, und wenn er erklärt, »Bubenstück vor Menschen« sei »nicht auch Bubenstück vor Gott« (685 f.). Die Gefahr, die von solchem Fundamentalismus für andersgläubige oder anders geartete Bevölkerungsgruppen ausgeht, könnte nicht deutlicher aufgezeigt werden. Im Sinne der Aufklärung sind Orthodoxe entweder naiv oder uneinsichtig, jedenfalls rückständig.
    Zwei Personen entziehen sich der gedanklichen Auseinandersetzung: Al-Hafi und der Klosterbruder. Sie verstehen sich zwar als Moslem beziehungsweise als Christ. Doch geht ihnen jede Form von Glaubenseifer, Missionierungsdrang oder gar Fanatismus ab. Beide reden unverkrampft mit Nathan, dem Juden, obwohl ihre Glaubensgemeinschaften in Spannung zum Judentum stehen. Trotzdem können weder Al-Hafi noch der Klosterbruder als tolerant bezeichnet werden. Sie meiden weitere Auseinandersetzungen, indem sie Jerusalem verlassen und ihre Religion privat leben wollen.
    Was Lessing unter Toleranz versteht und was er von toleranten Menschen erwartet, zeigt er an den Hauptpersonen seines Gedichts. Er führt damit die Diskussion weiter, die er schon mit seinen frühen Stücken
Der Freigeist
und
Die Juden
begonnen hatte. Die Forderung nach Toleranz wurde zu einem Hauptthema der aufklärerischen Diskussion überhaupt. Die Erörterung war in Deutschland besonders vordringlich, da hier seit dem Westfälischen Frieden 1648 die konfessionelle Spaltung besiegelt war. Eine Einheit stiftende Religion gab es im Reichsgebiet nicht mehr; jeder Landesherr bestimmte für sein Territorium die maßgebende Religion. Das Nebeneinander von Katholiken, Lutheranern und Calvinisten war verfassungsrechtlich festgelegt. Häufig waren Landesgrenzen zugleich Religionsgrenzen. Diskriminierungen von Katholiken oder Protestanten waren an der Tagesordnung; die von allen Konfessionen diskriminierte Religionsgemeinschaft war die der Juden.
    Tolerantia
– in der ursprünglichen lateinischen Bedeutung – heißt »das Ertragen, Erdulden«. In den Bereich der politischen Fachsprache gelangte das Wort durch das sogenannte Toleranzedikt von Mailand im Jahr 313 n. Chr., in dem Kaiser Konstantin den zuvor verfolgten Christen Glaubensfreiheit gewährte. Die Christen wurden also geduldet, obwohl sie den offiziellen Kaiserkult ablehnten. Gegen Ende des Jahrhunderts – 391 n. Chr. – erhob Theodosius dann das Christentum zur Staatsreligion.
    Nathans Vorstellung von Toleranz geht über die Forderung nach Duldung weit hinaus. Er setzt Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit der Gruppierungen voraus, nicht Dominanz und Akzeptanz. Er erwartet nützliches Handeln von allen, ungeachtet der unterschiedlichen Religionsauffassungen. Vor allem erwartet er Verzicht auf absolute Wahrheitsansprüche und auf autoritäres Gehabe.
    Nathan setzt dieses Konzept als Erster um. Er kann Saladin durch das Gleichnis von den drei Ringen überzeugen und den Tempelherrn gewinnt er in einem ausführlichen Gespräch. Am Ende der Überzeugungsarbeit steht jedoch nicht Duldung, sondern Freundschaft. Alle drei Hauptpersonen haben einen Wandel der Wertigkeiten vollzogen: Ihnen sind nicht mehr die Unterschiede der Völker und der Religionen wichtig, sondern die Gemeinsamkeit, »ein Mensch zu heißen« (1312):
    Sind
    wir unser Volk? Was heißt denn Volk?
Sind Christ und Jude eher Christ und Jude,
Als Mensch? (1308 ff.)
    Alle drei haben die Frage indirekt beantwortet, indem Nathan das vermeintliche Christenmädchen aufnahm, Saladin den vermeintlichen christlichen Europäer begnadigte und der Tempelherr das vermeintliche Judenmädchen rettete.
    Vereint sind sie in dem Bewusstsein, dass man nicht
wissen
kann, welches die wahre Religion ist, dass man aber
hoffen
darf, am Ende der Zeit vor dem weisen Mann bestehen zu können, der »auf diesem Stuhle sitzen« (2052) wird. Vereint sind sie aber auch in der Bereitschaft, dem moralischen Imperativ zu folgen: »Gut handeln« (361, 364) gilt ihnen als oberstes humanes Gebot.
Ausblick: Der Aufstieg des Bürgertums
    Es überrascht, dass derselbe Nathan, der gerade noch unsicher in der Einschätzung Saladins war, voller Selbstbewusstsein äußert: »Möcht auch doch die ganze Welt uns hören« (1893), ehe er dem Sultan seine Parabel vorträgt. Vorerst kann der Herrscher, dem allgemein der Titel »Verbesserer der Welt und des Gesetzes«
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