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Nathan der Weise

Nathan der Weise

Titel: Nathan der Weise
Autoren: Textausgabe + Lektüreschlüssel
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auch Gottes Ratschluss das!‹« (3052 f.). Dieser Einsicht folgt der Entschluss. Imperativisch wandte er sich an sich selbst:
    Komm! Übe, was du längst begriffen hast,
Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf! (3055 ff.)
    Dem guten Willen folgt die gute Tat: Nathan nimmt das fremde, christliche Kind als sein Kind an. Der gute Wille ist nicht unbegründet: Nathan stellt den Rückbezug zu Gott her; er möchte gewiss sein, dass sein Handeln in Übereinstimmung mit »Gottes Ratschluss« (3054) und seiner eigenen »Vernunft« (3052) ist und ruft zu Gott: »ich will! Willst du nur, dass ich will« (3057).
    Auf diese Einsicht gegründet und von diesem Willen getragen, hat er den neuen Lebensabschnitt begonnen. Achtzehn Jahre später sieht er sich der Gefahr gegenüber, sein Pflegekind wieder zu verlieren. Doch auch in dieser Krise bewahrt er seine Haltung: »wenn sie von meinen Händen die Vorsicht wieder fodert, – ich gehorche!« (3076).
    Den moralischen Imperativ »Es eifre jeder ...« (2041), der in der Ring-Parabel dem Richter in den Mund gelegt wird, wendet Nathan auf sich selbst an. Anders als Kant verlässt sich Lessings Nathan nicht allein auf die reine Vernunft, sondern bezieht sein Handeln auf Gott, auf Gottes Ratschluss und die Vorsehung.
    »Wahrheit« ist für ihn ein problematischer Begriff geworden. Er erkennt, dass die Möglichkeiten menschlichen Wissens begrenzt sind; und er findet sich mit dieser Begrenztheit ab. Schon während des Fragmentenstreits schrieb Lessing:
    »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu seyn vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinn allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –
    Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!«
    In seinem Drama zeigt er einige Personen, die im Besitz der Wahrheit zu sein »vermeynen«, und andere, die sich bemühen, »hinter die Wahrheit zu kommen«. Die Sympathie liegt bei den zuletzt Genannten.
Orthodoxie und Toleranz
    Der philosophische Diskurs, der zu dem Ergebnis führte, dass »der rechte Glaube [...] nicht erweislich« (1662 ff.) sei, hat zwingende Folgen für die Haltung und das Handeln des Menschen. Das gilt für sein Selbstverständnis, für seine Einstellung den Mitmenschen gegenüber und für sein Handeln in der Gemeinschaft. Die gesamte moralische, aber auch weite Teile der politischen Gesinnung sind betroffen.
    Wäre der rechte Glaube erweislich, so wäre Orthodoxie eine angemessene Einstellung; da er das nicht ist, ist Toleranz dem Andersgläubigen gegenüber die einzig mögliche Grundeinstellung. Doch sowohl Orthodoxie wie auch Toleranz gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen, auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Folgen.
    In der Person der Daja wird eine Form der Orthodoxie vorgestellt. Daja ist davon überzeugt, dass ihr Glaube, nämlich der christliche, der einzig richtige ist, dass Zweifel und Kritik unangemessen sind und dass man alles tun müsse, um Menschen, vor allem solche, die man schätzt, zum »wahren Glauben« zu bringen. Daja ist von ihrem »Wert als Christin« (752) überzeugt, möchte Recha »in Händen [...] wissen, die deiner würdig sind« (1538 f.) und hält Nathan als »Sünde« (2888) vor, dass er Recha nicht hat christlich erziehen lassen. Die Orthodoxie Dajas wird aufgedeckt und kritisiert. Doch wird Daja nicht verdammt. Was sie an Gutem tut, wird anerkannt. Dass sie naiv und unaufgeklärt bleibt, wird hingenommen.
    Gefährlich wird Orthodoxie, wenn sie zu autoritärer Haltung und zu aggressivem Handeln führt. In der Figur des Patriarchen wird gezeigt, wohin Orthodoxie führen kann. Der Patriarch könnte in neuerer Sprachgebung auch als Fundamentalist charakterisiert werden, als jemand, der sich allein auf die ihm vertrauten Glaubensdokumente stützt, der keine wissenschaftliche Forschung und keine Erfahrungen zur Kenntnis nimmt, der sich an keinem öffentlichen Diskurs beteiligt und der mit
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