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Nächte des Schreckens

Nächte des Schreckens

Titel: Nächte des Schreckens
Autoren: Pierre Bellemare
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den Stein gehauenes Kreuz erhebt. Wenn man bedenkt, daß hier jemand bis zum Ende seiner Tage gelebt hat!
    Murdoch versucht, sich das vorzustellen, aber es will ihm nicht gelingen. Dafür kann er sich um so lebhafter ausmalen, wie sich die drei vollkommen isolierten Leuchtturmwächter hier fühlen müssen. Diese Tätigkeit ist ohnehin schon hart, aber das hier geht an die Grenze des Erträglichen.
    Er holt Kapitän Mac Stevens ein, der mit raschen Schritten auf den Leuchtturm zusteuert, und fragt ihn leise: »Wußten Sie vorher, wie es auf Eilean Mor ist, Kapitän?«
    Dieser antwortet nicht und stößt die Tür des Leuchtturms auf. Im Erdgeschoß befinden sich die Zimmer der Wächter. Mac Stevens geht hinein, doch sie sind alle leer. Nichts deutet auf irgendein ungewöhnliches Geschehen hin. Die Betten sind gemacht, und alles ist an seinem Platz.
    Murdoch und Mac Stevens bleiben einen Moment reglos stehen. Keiner von ihnen sagt etwas, doch sie denken beide das gleiche: Diese vollkommen normal wirkende Umgebung ist schlimmer als alles andere. Da hätten sie die drei Männer beinahe lieber jammernd und stöhnend in ihren Betten vorgefunden, womöglich im Fieberwahn oder verletzt.
    Die Stimme des Kapitäns unterbricht das Schweigen: »Gehen wir nach oben!«
    Die Männer drängen sich die schmale Treppe hinauf. Atemlos gelangt die Gruppe in den großen runden Raum, wo sich der Scheinwerfer befindet. Auch hier herrscht dieselbe tadellose Ordnung wie in den unteren Zimmern, doch die drei Wächter sind nicht da.
    Kapitän Mac Stevens betätigt einen Hebel, und gleich darauf wird der Raum von einem gleißenden Lichtstrahl erfüllt. Der Scheinwerfer funktioniert also einwandfrei. Wenn seit dem 15. Dezember vom Leuchtturm kein Signal mehr kommt, so liegt das daran, daß niemand mehr da ist, um den Scheinwerfer zu bedienen. Doch warum nicht? Wo sind die Wächter?
    Kommandant Murdoch hat plötzlich eine Idee: »Die Kapelle...« Erneut setzt sich die kleine Gruppe in Bewegung und geht im Gänsemarsch die Wendeltreppe hinab. Dann laufen die Männer über den Schnee zur Kapelle. Im Inneren der Grotte empfängt sie ein moderiger Geruch, und im Halbdunkel kann man gerade eben einen kleinen steinernen Altar erkennen. Das ist alles. Die Grotte ist ansonsten leer.
    In wenigen Minuten haben die Männer das übrige Eiland abgesucht, und schließlich meint Kapitän Mac Stevens mit einem Ausdruck tiefer Entmutigung: »Lassen Sie uns wieder hinaufgehen.«
    Oben betrachtet Murdoch lange Zeit das Panorama, das er vor Augen hat: Man sieht das Meer und sonst überhaupt nichts. Nie zuvor hat er sich an einem Ort dermaßen einsam gefühlt. Hinter ihm ertönt eine Stimme: »Schauen Sie mal, Kommandant!« Mac Stevens hält ein in schwarzen Stoff eingebundenes Buch in Händen.
    »Was ist das?«
    »In dieses Buch müssen die Wächter eintragen, welche Schiffe vorbeifahren und was sich sonst noch ereignet.«
    »Und haben sie aufgeschrieben, was passiert ist?«
    »Nein. Aber ich glaube, daß ich trotzdem die Wahrheit erraten habe.«
    Kapitän Mac Stevens reicht Murdoch das Buch.
    »Hier, lesen Sie. Derjenige, der das notiert hat, heißt... er hieß Marshall. Die Namen, die er hier zitiert, sind die seiner Kollegen.«
    Und Kommandant Murdoch liest: »13. Dezember. Sturm ist herauf gezogen. Drei Schiffe in Richtung Südost. Trevor ist sehr zornig...«
    »Das ist wirklich seltsam! Am 13. Dezember befanden wir uns nicht weit von hier, doch das Meer war vollkommen ruhig. Gab es denn hier tatsächlich einen Sturm?«
    »Nein. Lesen Sie weiter.«
    »... 14. Dezember. Der Sturm tobt noch genauso heftig. Trevor ist jetzt ruhig, und Baring weint.«
    Kommandant Murdoch ist durch diese rätselhaften Ausführungen mehr als verwirrt.
    »Ich verstehe kein Wort davon. Ist es üblich, über das Verhalten der anderen Wächter Buch zu führen?«
    »Keineswegs.«
    »Hatte der Schreiber etwa den Verstand verloren?«
    »Lesen Sie, was folgt. Es geht nur noch um den nächsten Tag.« Und tatsächlich endet der Bericht am 15. Dezember. Von da an gibt es nur noch leere Seiten.
    »... 15. Dezember. Der Sturm ist vorbei. Trevor betet. Gott ist überall.«
    Kommandant Murdoch blickt von der Lektüre auf.
    »Am 15. Dezember um elf Uhr abends funktionierte der Scheinwerfer schon nicht mehr. Demnach muß die Tragödie im Laufe des Tages geschehen sein.«
    »Ganz sicher.«
    »Aber warum spricht er von einem Sturm, wo es doch gar keinen Sturm gegeben hat?«
    »Doch, es gab einen Sturm...
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