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Nachts

Nachts

Titel: Nachts
Autoren: Stephen King
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man sich als Kind niedergedrückt fühlen mußte. Hier standen nicht reihenweise düstere Einbände, sondern Bücher, die förmlich in grellen Primärfarben schrien: Hellblau, Rot, Gelb. In dieser Welt war Dr. Seuss König, Judy Blume Königin, und sämtliche Prinzen und Prinzessinnen besuchten die Sweet Valley HighSchool. Hier verspürte Sam das alte Gefühl wohltuender Heimeligkeit nach der Schule; es war ein Ort, wo die Bücher förmlich danach bettelten, berührt, genommen, betrachtet, erforscht zu werden. Und doch hatten diese Empfindungen alle einen eigenen dunklen Beigeschmack.
    Aber seine deutlichste Empfindung war ein fast sehnsüchtiges Vergnügen. An einer Wand hing eine Fotografie eines Welpen mit großen, nachdenklichen Augen. Unter dem ängstlichhoffnungsvollen Gesicht des Welpen stand eine der großen Wahrheiten dieser Welt geschrieben: ES IST SCHWER, GUT ZU SEIN. An der anderen Wand hing ein Gemälde, das Stockenten auf dem Weg zum überwucherten Ufer zeigte. MACHT PLATZ FÜR ENTEN! trompetete das Plakat.
    Sam sah nach links, und das milde Lächeln auf seinen Lippen zuckte und verschwand. Da hing ein Plakat mit einem großen schwarzen Auto, das von einem, wie er vermutete, Schulhaus wegraste. Ein kleiner Junge sah zum Beifahrerfenster heraus. Er hatte die Hände an die Scheibe gedrückt und den Mund zu einem Schrei aufgerissen. Im Hintergrund kauerte ein Mann nur ein vager, geheimnisvoller Schemen über dem Lenkrad und gab Gas, was das Zeug hielt. Die Worte unter dem Bild lauteten: FAHRE NIEMALS MIT FREMDEN!
    Sam wurde klar, daß das RotkäppchenPlakat auf der Tür der Kinderbibliothek und dieses hier dieselben primitiven Angstgefühle ansprachen, aber das hier fand er wesentlich beunruhigender. Natürlich sollten Kinder nicht mit Fremden mitfahren, und selbstverständlich mußte man ihnen das beibringen; aber war dies die richtige Methode, es ihnen klarzumachen?
    Wie viele Kinder, fragte er sich, hatten dank dieser kleinen Warnung des öffentlichen Dienstes eine Woche lang Alpträume?
    Ein weiteres Plakat, das auf die Front der Ausgabetheke geklebt war, verschaffte Sam eine Gänsehaut wie der kälteste Januar auf dem Rücken. Es zeiete einen kläglichen Jungen und ein beide sicher nicht älter als acht, die vor einem Mann mit Trenchcoat und grauem Hut zurückschreckten. D er Mann schien mindestens drei Meter groß zu sein; sein Schatten fiel auf die emporgewandten Gesichter der Kinder. Die Krempe des Schlapphuts aus den vierziger Jahren warf ihrerseits einen Schatten, und aus diesen dunklen Tiefen glommen die Augen des Mannes im Trenchcoat unbarmherzig. Sie sahen wie Eissplitter aus, während sie die Kinder studierten und mit dem grimmigen Blick der AUTORITÄT maßen. Er hielt eine Kennkarte mit einem daran festgesteckten Stern hoch einem seltsamen Stern mit mindestens neu n Zacken. Vielleicht sogar einem ganzen Dutzend. Der Text darunter lautete: VERMEIDET DIE BIBLIOTHEKSPOLIZEI!
    BRAVE JUNGS UND MÄDCHEN BRINGEN IHRE BÜCHER
    PÜNKTLICH ZURÜCKl
    Und wieder war der Geschmack in seinem Mund. Dieser süße, unangenehme Geschmack. Und ein befremdlicher, beängstigender Gedanke kam ihm: Ich habe diesen Mann schon einmal gesehen. Aber das war selbstverständlich lächerlich. Oder nicht?
    Sam überlegte sich, wie ihn so ein Plakat als Kind eingeschüchtert haben würde wieviel schlichte, ungetrübte Freude es dem sicheren Hafen der Bibliothek genommen hätte , und spürte Mißbilligung in seiner Brust emporsteigen. Er trat einen Schritt näher an das Plakat, um sich den seltsamen Stern eingehender zu betrachten, und nahm gleichzeitig die Rolle Tums aus der Tasche.
    Er steckte gerade eines in den Mund, als eine Stimme hinter ihm sagte: »Oh, hallo!«
    Er schreckte hoch, drehte sich um und war zum Kampf mit dem Bibliotheksdrachen bereit, nachdem sich dieser endlich gezeigt hatte.

    2

    Aber es kam kein Drache. Nur eine dickliche, weißhaarige Frau um die Fünfundvierzig, die ein Wägelchen mit Büchern auf lautlosen Gummirollen schob. Das weiße Haar rahmte das offene, glatte Gesicht mit hübschen Dauerwellen ein.
    »Ich nehme an, Sie haben nach mir gesucht«, sagte sie. »Hat Mr.
    Peckham Sie hier reingeschickt?«
    »Ich habe überhaupt niemand gesehen.«
    »Nicht? Dann ist er schon nach Hause gegangen«, sagte sie. »Das überrascht mich nicht, schließlich ist es Freitag. Mr. Peckham kommt jeden Morgen um elf, um abzustauben und die Zeitung zu lesen. Er ist Hausmeisterselbstverständlich nur halbtags.
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