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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge
Autoren: Titus Müller
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Innerlich zählte sie die Sekunden. Sie hatte das einen ganzen Nachmittag lang mit EIS geübt, bis er im gleichen Tempo zählte wie sie. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Sechsundzwanzig. Sechs Sekunden. Man ist mir gefolgt. Verschwinde. Sie zündete sich ein Streichholz an.
    EIS begriff sofort. Er legte Geld auf den Tisch, ging zur Garderobe und nahm seinen Hut. »Bis bald«, warf er dem Barkeeper hin und verließ die Kneipe. Einer der Agenten folgte ihm. Nur einer. Das hieß, sie wussten nichts und wollten nur sichergehen. EIS würde ihn leicht abschütteln.
    Die Agenten des MI 5 warteten, um zu sehen, mit wem sie sich traf, und dann sie und ihren Partner festzusetzen. Sie nahm ihr Bier, stand auf und ging zu einem der kleinen Tische nahe der Tür. »Darf ich?«, fragte sie.
    Der Mann, der am Tisch saß, sah sie kurz über den Rand seiner Zeitung an, dann senkte er sie erfreut. »Natürlich.« Er legte die Zeitung weg, erhob sich und zog ihr den freien Stuhl zurecht. Als sie sich gesetzt hatte, nahm auch er wieder Platz.
    »Hatten Sie einen guten Tag?« Sie lächelte ihn an.
    »Leider nicht. Ich hab heute erfahren, dass meine Jungs in den Nachbarhäusern das Geld aus den Gaszählern stehlen.« Er seufzte. »Man gibt sich alle Mühe mit der Erziehung, und dann so was. Wie werden aus solchen süßen kleinen Buben Diebe?«
    »Machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte sie. Sie holte ihren Taschenspiegel hervor und schob ihn umgedreht, mit der matten Seite nach oben, über den Tisch. »Hier. Das können Sie haben.«
    Eric spähte durch den Schlitz der Toilettentür. Die Übergabe fand vor ihrer aller Augen statt. Dass sie so simpel arbeitete, hätte er nicht gedacht. Dieser Mann musste der Spion sein, den sie hier regelmäßig traf.
    Dass sie Nerven wie Stahlseile besaß, sah man ihr nicht an. Sie war von schlichter, natürlicher Schönheit. Ihre Wimpern, die wachen Augen. Die flache Brust und die schmalen Schultern gaben ihr ein mädchenhaftes, zerbrechliches Aussehen.
    Plötzlich ein Blick von ihr. Zu ihm, zum Türschlitz. Dieser Blick war doch kein Zufall gewesen! Spürte sie, dass sie beobachtet wurde? Durchschaute sie die ganze Situation? Er stieß die Tür auf.
    Aber da war sie bereits beim Ausgang. Er zwängte sich durch die Menge, an zwei seiner Leute vorbei, die den Spion am Tisch niederwarfen. Draußen sah er sie um die nächste Hausecke verschwinden. Sie war verdammt schnell. Er rannte ihr nach, seine Beine pumpten. Ein Kollege folgte ihm.
    Als er sie wieder nach links abbiegen sah, begriff er, was sie vorhatte. Zur Straße des Pubs würde sie keinesfalls zurückkehren, sie musste als Nächstes einen Haken nach rechts schlagen. »Folgen Sie ihr!«, rief er dem Kollegen zu. Er selbst bog rechts ab, um ihr den Weg abzuschneiden. Seine Lunge brannte, aber die Aussicht, Nachtauge gleich zu schnappen, endlich, nach all den Jahren, beflügelte ihn. An der nächsten Kreuzung entschied er sich für die kleine, schmale Gasse – und sah enttäuscht, dass sie leer war. Kam er zu spät? Wo war die Deutsche?
    Er trabte in die Gasse hinein. Eine Haustür klappte im Windzug auf und zu. Hatte sie sich in dieses Haus gerettet? Vorsichtig betrat er das dunkle Treppenhaus. War sie hinaufgegangen oder hinunter in den Keller?
    Aus dem Schatten trat die Deutsche. Sie lächelte ihn an, als habe sie auf ihn gewartet, genau auf ihn, und hob eine Welrod-Schalldämpferpistole.
    Er sprang zur Seite, wie er es in seiner Ausbildung für solche Fälle gelernt hatte. Der Schuss keuchte leise. Er wollte die Treppe hinauf entkommen, aber er rutschte abwärts, sackte zu Boden. Die Frau stieg über ihn hinweg und verließ das Treppenhaus.
    Etwas Warmes rann ihm über die Brust. Er dachte an Connie. An ihren ersten Kuss, damals, im Park. An die Hochzeit. Er dachte daran, dass er versprochen hatte, seinem Sohn etwas mitzubringen. Tony räumte sein Zimmer umsonst auf. Er würde heute nichts bekommen.
    Tat das weh! Die Brust platzte ihm schier vor Schmerzen. Und dieses Rauschen in den Ohren. Die Umarmung heute Morgen … Hätte er doch Connie nur länger im Arm gehalten.

5
    Georg sah hoch zu den großen, eisernen Zeigern der Bahnhofsuhr: sechs Uhr neununddreißig. Mit quietschenden Rädern kam der Zug zum Stehen. Die Lok zischte laut, wie erschöpft von der langen Reise. Soldaten öffneten die Waggons. Es war wie zu Beginn eines Schuljahres, wenn er die neue Klasse gemustert hatte. Nur dass hier die Schülerinnen aus Viehwaggons kletter ten,
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