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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder
Autoren: Sabine Bode
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unterkriegen lassen, er hatte sein Schicksal in die Hand genommen, und dies mit großem Erfolg. Martin Best kommt an dieser Stelle auf seinen älteren Bruder zu sprechen, der in der Jugend die Einstellung seines Vaters übernommen und nicht mehr geändert habe. Noch heute rede der Bruder abwertend über sozial Schwache, da sei er ohne jede Empathie. Er halte Schwäche bei sich und anderen so wenig aus, dass er seiner Mutter drei Tage nach dem Tod ihres Mannes nahelegte: »Weinen hilft jetzt auch nicht!« Die Mutter beherzigte den Rat und wurde depressiv.

Der abwesende Vater
    Martin Best unterbricht unser Gespräch, er bestellt einen Espresso. Dann kommt er auf seine eigene Entwicklung zu sprechen. »Mein Vater hat von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends gearbeitet. Man hat als Kind nicht viel von ihm gehabt. Und in der Jugend hatte ich zu wenig Orientierung in Fragen, was es heißt ein Mann zu werden und ein Mann zu sein.« Das habe |43| vorübergehend zu einer Irritation in der Geschlechtsrolle geführt, bekennt er. Seine Versuche, mit sich und der Welt ins Reine zu kommen, beschreibt er so: Mit 16 aus der Kirche ausgetreten, mit 19 Jahren wieder eingetreten. Er wollte Priester werden, genauer Arbeiterpriester. Damit, erklärt er mir, sei er unbewusst dem Vorbild des Großvaters gefolgt, dem katholischen Widerstandskämpfer. »Ich wollte Priester werden – nicht trotz des Zölibats, sondern wegen des Zölibats. Von einer bruchlosen Identifikation mit meinem Vater kann keine Rede sein.« Die Defizite seines Aufwachsens, fährt er fort, habe er während seiner Ausbildung zum Therapeuten bearbeiten können und seitdem wisse er: Es habe bei ihm stärkere Belastungen gegeben als bei anderen Gleichaltrigen, deren Eltern vergleichsweise unbeschadet durch den Krieg gekommen waren. Wie ich weiter erfahre, hat ihm später eine gewisse Distanz gut getan, als er seine Eltern nur noch dreimal im Jahr besuchte. Vermutlich hat ihm der räumliche Abstand geholfen, als Familienvater und Psychotherapeut seine eigenen Wege zu finden.
    Während Martin Best seinen Espresso trinkt, nimmt er den Faden der Kriegsvergangenheit seines Vaters wieder auf. Er kann sich nicht erinnern, ob in seiner Familie, wo jedes aktuelle Thema aufgegriffen wurde, über die Wehrmachtausstellung diskutiert wurde. »Wenn ja, dann vermute ich, dass er einerseits die Inhalte nicht in Frage stellte, aber sofort reflexhaft auf die Verbrechen der Russen zu sprechen kam.« Ich frage ihn, ob er, Martin Best, in jener Zeit gedacht oder laut gesagt habe: Soldaten sind Mörder. Nein, antwortet er, nur einmal sei er in die Nähe dieses Themas gekommen. Er schildert ein Ereignis während einer Familienfeier, als sein Vater sein 70. Lebensjahr schon überschritten hatte: Ohne jede Vorankündigung nahm Harald Best ein paar handgeschriebene Blätter in die Hand und sagte ruhig: »Ich will euch etwas vorlesen.« Es war ein nüchterner Bericht über seine Zeit als Wehrmachtsoldat, eine Auflistung seiner Stationen während des Krieges. Demnach war er nur wenige Wochen an der Front gewesen. |44| Martin Best erzählt, der Vater habe alles völlig unaufgeregt vorgetragen, und in der Familie sei darauf reagiert worden, als habe es sich um den abendlichen Wetterbericht gehandelt.
    Martins Bruder fragte noch: »Warum hast du das eigentlich geschrieben?«
    »Ich wollte nachweisen, dass ich im Krieg niemanden erschossen habe.«
    »Ach so.«
    Nur mit seiner jüngeren Schwester, der Martin Best nahe steht, seit sie sich beide in ihrer Jugend auf die Seite der Mutter schlugen, konnte er sich später darüber austauschen. »Ich bin vorher davon ausgegangen: Natürlich hat er als Soldat geschossen«, sagt er. »Und ich war verwundert darüber, wie stark er unter der Vorstellung gelitten haben muss, andere könnten ihn diesbezüglich verdächtigen.« Für ihn als Sohn ist die Aussage wichtig, für sein Vaterbild ist sie wichtig. »Obwohl das ja auch kein Beweis war, er kann ja aufschreiben, was er will«, räumt er ein. »Dennoch: Ich glaube ihm.«

Wachsendes Leid mit der Prothese
    Harald Best starb mit 75 Jahren. Nach seinem Tod meinte der Hausarzt, er hätte damit gerechnet, dass der Vater nur 35 oder maximal 50 Jahre alt werde. »Das Erstaunliche« sagt Martin Best, »ist mir erst bei seiner Beerdigung aufgegangen: Wie hat dieser Mann eigentlich gelebt? Jahrzehntelang die starken Schmerzen, Granatsplitter, Leberschädigung, große Einschränkungen. Je älter mein Vater wurde, desto
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