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Mythos Ueberfremdung

Mythos Ueberfremdung

Titel: Mythos Ueberfremdung
Autoren: Doug Sounders
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kulturelle Niederlage.« 3 Mit anderen Worten: Der Islam kann nie mehr als etwas Unvermeidliches und Unhinterfragbares dienen, wenn er in die von Unwägbarkeiten und Kompromissen geprägte Welt der Politik drängt.
    Solche Dinge lassen sich in den Ländern beobachten, die bereits religiös motivierte Regierungen haben. Sie erleben eine »Privatisierung der Religion«: Sie ist nicht mehr die einzige regulierende Kraft in der Gesellschaft, sondern wird von den Gläubigen als Quelle der Identität bewusst gewählt und aufgesucht, sie ist aber nicht mehr die wichtigste Sache, die sie für persönliche oder politische Entscheidungen bemühen. Selbst wenn sich die Menschen in diesen Ländern als »Muslime« bezeichnen, betrachten sie den Islam nicht mehr als die wichtigste Leitlinie in ihrer Welt. In der Türkei wurde ein Jahrzehnt Regierungszeit einer Partei von Gläubigen, die manche als islamistisch bezeichnen, von einem tief gehenden Wandel in öffentlichen Glaubensfragen begleitet, wie groß angelegten Untersuchungen der Türkischen Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien zu entnehmen war. Während der Anteil derjenigen, die sich »zunächst als Muslim/Muslima und in zweiter Linie als Türke/Türkin« bezeichnen, von 36 Prozent im Jahr 1999 bis zum Jahr 2006 auf 45 Prozent zunahm, stieg im gleichen Zeitraum der Anteil derjenigen, die »niemals in einem islamischen Staat leben wollen«, von 58 auf 76 Prozent, und auch die Beliebtheit öffentlicher religiöser Symbole, etwa die des Kopftuchs, nahm ab. Im Iran gab es sogar einen noch dramatischeren Wandel: Die groß angelegten Untersuchungen von Amir Nikpey und Farhad Khosrokhvar kamen zu dem Ergebnis, dass die Iraner in Teheran und der heiligen Stadt Ghom eine tiefe Abneigung gegen religiöse Politik und die Idee eines islamischen Staates entwickelten und die Religion als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit sehen.
    Der islamistische Aufschwung in der arabischen Welt scheint auch für einen starken Rückgang der Unterstützung des gewalttätigen dschihadistischen Radikalismus im Stil von al-Qaida gesorgt zu haben, denn dieselben Muslime aus der Mittelschicht, die als Reaktion auf die Unterdrückung der islamistischen Politik die gewalttätige dschihadistische Politik befürworteten, kehrten umgehend in die Mitte des politischen Spektrums zurück. Eine im Herbst 2011 durchgeführte Umfrage des Pew Research Center zeigte, dass die Bewunderung für Osama bin Laden als Volksheld im Gefolge der ara bischen Aufstände im ganzen Nahen Osten sehr stark zurückgegangen war. In Jordanien und in den Palästinensergebieten sackte sie um 40 Prozent ab, in Ägypten betrug der Rückgang ein Fünftel. Ehemalige radikale Dschihadisten sagten mir, die Demokratie habe sie von der Gewalt weggebracht.
    Im September 2011 sprach ich mit Usama Rushdy, einem ehemaligen ägyptischen Dschihadisten (er war der Gründer der Gruppe, die den ägyptischen Staatspräsidenten Anwar Sadat ermordete). »Wenn man [politisch] blockiert wird, so wie wir in Ägypten, entwickelt man eine bestimmte Einstellung«, sagte er. »Man hat das Gefühl, dass Gewalt das einzige nützliche Mittel ist und dass diejenigen Menschen deine Feinde sind, die das Regime unterstützen, das dich umbringt.« Die Dschihadisten, bis hin zu und einschließlich der Attentäter vom 11. September 2001, versuchten niemals, den Islam in anderen Ländern durchzusetzen. Ihr Ziel war vielmehr, die nicht islamischen Kräfte und Einflüsse aus den Gebieten zu entfernen, die sie als »die islamische Welt« bezeichneten, damit diese rein werden könne. Heute können sie auf der Wahlkampfbühne für diese Reinheit kämpfen und müssen sich dabei um die Gunst der Wähler bemühen, die ein besseres Leben erwarten, nicht nur fromme Erklärungen.
    Diese islamistischen Parteien sind eine eindeutig weniger gewalttätige Option und stehen für eine politische Übergangszeit, doch sie sind weder freundlich, noch sollten sie gefeiert werden. Sie repräsentieren reaktionäre, repressive, intolerante und antisemitische Kräfte zu einem Zeitpunkt, in dem die Länder des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas dringend das Gegenteil brauchen. Wir sollten niemandem solche Parteien an den Hals wünschen, aber sie sind genauso wenig ein Beweis für einen Islam auf Eroberungszug wie im Jahr 2000 die Wahl eines evangelikal-christlichen republikanischen Präsidenten bedeutete, dass das Christentum auf dem Vormarsch war – oder dass man
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