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Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Titel: Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Autoren: Julia Malchow
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deinen Zielen für die Firma zu verknüpfen.« Wir unterhalten uns bis weit in die Abenddämmerung hinein, essen mit Levi zu Abend und verabschieden uns wie zwei Menschen, die irgendetwas Subversives in Gang gesetzt haben.
    Im Hotelzimmer laufe ich hin und her und komme einfach nicht zur Ruhe. Levi schläft. Und ich merke, dass ich nervös war. Nervös vor meinem Vortrag. Der ja eigentlich schon vorbei ist. De facto. Nicht in meinem Kopf. Immer und immer wieder sehe ich den Raum, die Menschen, mich, Levi, wie er neugierig zwischen der Menge herumkrabbelt und von Frederic bespaßt wird. Die Fahrt in das Firmengebäude war nicht so lang. Der Turm beeindruckend hoch, das Ambiente gediegen. Ich habe keine wirkliche Ahnung, wen ich da eigentlich vor mir hatte. Ob ich wohl was bewegen konnte?
    Irgendwann stehe ich mit Zahnbürste vor dem Spiegel und sehe zwei Augen. Und wie sie leuchten.
    Die meisten meiner nachmittäglichen Zuhörer halten mich bestimmt für eine Spinnerin. Für eine Verrückte, die mit ihrem Baby durch die Gegend reist, um ihren Gedanken nachzuhängen. Und die jetzt auch noch versucht, ihren komischen Lebensstil als Kreativitätstechnik an einen Konzern zu verkaufen.
    Und mir hat das richtig Spaß gemacht. Ich habe mich sehr wohl gefühlt in meiner Rolle heute Nachmittag. Mal abgesehen von den falschen Miu Mius, denn die drücken gewaltig.
    Mir war klar, dass ich anders denke und lebe als mein Publikum. Und dass Andersartigkeit bei den meisten Menschen zunächst Ablehnung hervorruft. Dass ich vermutlich keine Standing Ovations bekommen würde. Und dass viel erreicht ist, wenn ich nur ein paar der Zuhörer zum Nachdenken bringe. Aber ich habe es probiert. Ich habe mit Leidenschaft über meine Überzeugung gesprochen.
    Ich kontrolliere die Temperatur auf der Stirn meines Sohnes. Alles ist gut.
    Noch im Bett denke ich an Frederic und seine Kreativitätsmission: Wie sollen aus Kindern, die im Kindergarten, in der Schule und von ihren Eltern gut organisiert und kontrolliert werden, auf Knopfdruck ab einem gewissen Alter kreative, unabhängige Persönlichkeiten werden? In China erwartet das vielleicht niemand, aber in Europa? In Deutschland? Wo die Kreativität, die Innovationsfähigkeit der Menschen als der einzige international relevante Wettbewerbsfaktor gehandelt wird. Durch nichts anderes können wir uns vom Rest der Welt unterscheiden. Vor dem Rest der Welt bestehen.
    Auf unserer Reise fordert Levi jeden Tag meine Kreativität. Und meine Bereitschaft, einmal gefasste Pläne ganz schnell wieder zu vergessen. Kein Tag endet so wie geplant. Meistens mache ich gar keine Pläne mehr und genieße, was auf uns zukommt.
    Müssten nicht alle Bewohner eines Landes, dessen Stärke die Innovationskraft und Kreativität der Menschen sein soll, mehr so leben? Müssten nicht all diese Menschen einen Bogen um Routine machen? Müssten nicht all diese Menschen viel mehr leben wie Kinder, wenn sie ihrer Natur folgen dürfen: alles hinterfragen, vieles ausprobieren, auch das, was Dreck macht? Und Lärm. Nichts für gegeben nehmen? Pläne über Bord werfen, weil das Ungeplante am Straßenrand, kurz bevor man ins Auto verladen werden soll, viel spannender scheint? Und müssten Politik, Unternehmen und Mitmenschen nicht ein derartiges Verhalten unterstützen? Und müssten Kinder in einem derartigen Land nicht wertgeschätzt werden? Und die Menschen, die Kinder bekommen?
    Zeigen die kinder- und familienfeindlichen Tendenzen in Deutschland, beispielsweise die Arbeitszeitmodelle, die mit einem Familienleben nicht vereinbar sind, Unternehmenskulturen, in denen Kinder als Karrierekiller gelten, oder Kitas, die um neun Uhr die Tür verschließen und Kindern den Zugang verwehren, die beim Frühstück gerne mal zehn Minuten länger die Konsistenz des Müslis untersuchen – zeigen sie denn nicht, dass wir es nicht ernst meinen mit unserer einzigen internationalen Chance?
    Zerstören wir nicht mit dem Anspruch, unser Leben mit Kindern perfekt organisieren zu wollen und zu müssen, unsere Zukunftschancen? Die unseres Landes? Entlarven wir mit dem Ausspruch, Kind und Karriere irgendwie unter einen Hut bekommen zu müssen, nicht eine gesellschaftliche Unfähigkeit, kreativ und innovativ zu leben? Oder eine Angst davor, frei zu sein? Eine Angst vor der Planabweichung? Wer auch immer diese Pläne für mich gefasst hat.
    Und warum wird die Kindererziehung in Deutschland eigentlich so einseitig in die organisierte Richtung ideologisiert?
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