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Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm

Titel: Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
Autoren: Maria Ernestam
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Sie selbst war sich während ihrer gemeinsamen Kindheit wie ein Wechselbalg mit einem Trollschwanz vorgekommen.
    Jetzt schob sie vorsichtig einen Zeitungsstapel beiseite, um sich an den Esstisch zu setzen, der mit Post, Essensresten und Werkzeug übersät war, und fand fast keinen freien Platz für die Tasse und den Teller, die Iris ihr reichte. Vorsichtig nippte sie an ihrer Kaffeetasse und versuchte von der Tatsache abzusehen, dass diese nicht ganz sauber war. An dem Kaffee war jedoch nichts auszusetzen, und auch das selbstgebackene Brot mit Schinken schmeckte gut. Iris versank zwar derart im Schmutz, dass sie kaum noch wiederzuerkennen war, hatte dafür aber eine Großzügigkeit entwickelt, die ihr in ihrer Kindheit gefehlt hatte.
    Anna sann darüber nach, wie Iris’ Leben die ganze Familie beeinflusst hatte. Genauso groß wie die Freude über ihre Geburt war die Trauer über ihren Herzfehler gewesen, den man damals nicht hatte operieren können. Die Sorge um die Kleine hatte keine Grenzen gekannt, auch nicht, als einem begabten Chirurgenteam zehn Jahre später das Unmögliche gelungen war. Mit zwanzig war Iris mit einem Landwirt aus Iowa in die USA durchgebrannt und hatte ihrer Familie in einem Brief mitgeteilt, sie würde vermutlich einige Jahre bleiben, da sie geheiratet hätte. Erst da hatte Mama verstanden, dass ihr kleiner vom Tode gezeichneter Engel auch die nächsten beiden Weihnachtsfeste überleben würde.
    Dieser Verrat war so groß gewesen, dass man darüber nicht mehr hatte sprechen können. Die Schuld dafür schob ihre Mutter irgendwann ihrem Vater und ihr in die Schuhe. Auf der anderen Seite standen Mama und Gott in wunderbarer
Eintracht und versicherten sich ständig gegenseitig, sie seien unfehlbar.
    Iris’ Flucht stellte das Ende ihres Familienkleeblatts dar. Ein vierblättriges Kleeblatt, das sein Versprechen nicht eingelöst hatte. Früher konnte sie sich nie vorstellen, dass Iris vielleicht auch Gründe gehabt haben mochte, die Flucht zu ergreifen. Jetzt sah sie ein, dass sie sich eventuell geirrt hatte.
    »Weshalb bist du damals einfach so in die USA verschwunden?«
    Iris saß breitbeinig auf einem Stuhl und biss von ihrem Butterbrot ab. Dann lehnte sie sich mit ihren kräftigen, geröteten Armen auf den Tisch und schaute aus dem Fenster. Anna sah nicht ihr Gesicht, sondern nur ihr etwas fettiges Haar, das immer viel dünner gewesen war als ihr eigenes.
    »Was meinst du mit verschwinden?«
    »Ich meine, du hast dich nicht verabschiedet, sondern hast einfach deine Sachen gepackt und bist abgehauen. Zu Hause waren sie vollkommen außer sich, als du sie nicht zur Hochzeit eingeladen hast. Mama rief mich an und schrie nur noch in den Hörer. Natürlich war das meine Schuld, obwohl ich damals gar nicht mehr zu Hause wohnte. Und Papas natürlich.«
    Iris lachte. Ihre Zähne waren gelb, und sie erinnerte an ein wieherndes Pferd.
    »Ich war diese ganzen Verbote zu Hause einfach leid. Und Mama. Meine Güte, nichts durfte ich allein machen. Alles wurde kontrolliert, und ich wollte einfach nur meine Ruhe haben und wie alle anderen sein dürfen.«
    »Hör schon auf, Iris. Du warst immer der Liebling, und diese Rolle hat dir auch gefallen. Deswegen bin ich ja abgehauen. Weil ich gegen dich doch keine Chance hatte. Du warst immer die Bessere.«
    »Du sagst es, Anna. Abgehauen. Du hast zuerst die Biege gemacht, denk daran. Und ich habe dich bewundert. Dass du dich das getraut hast, und dass man dich in der Familie derart
respektiert hat, dass es sogar erlaubt war. Sie haben sich darauf verlassen, dass du zurechtkommen würdest. Bei mir brach eine Krise aus, sobald ich nur einen Liter Milch kaufen wollte. Alle glaubten immer, ich würde sterben. Niemand traute mir zu, dass ich irgendwas alleine bewältigen könnte. Vermutlich bin ich deswegen weg. Um zu beweisen, dass ich das genauso gut konnte wie du. Und dieser Typ hatte schöne Pferde im Stall. Das war übrigens das einzig Vernünftige an ihm, ihr habt also nichts verpasst.«
    Anna wusste nicht, was sie erwidern sollte. Ihre ganze Kindheit, sie selbst und dieses makellose Spiegelbild, mit dem sie immer verglichen worden war, kamen ihr plötzlich wie eine einzige Farce vor. Wie eine Maskerade. Sie bekam ihre Gefühle zurückgespiegelt. Iris erzählte von der Eifersucht auf eine Schwester, die schön und gesund gewesen war und das Leben anpackte, ohne Mama oder Gott um Erlaubnis zu fragen. Sie meinte, sie sei nur so bescheiden gewesen, um etwas zu sein,
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