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Mord im Nord

Mord im Nord

Titel: Mord im Nord
Autoren: A Giger
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sandten sofort den Ratsherrn Bruderer von Trogen und den Landläufer Mötteli von Speicher nach Kotzeren, um die Leiche wegzunehmen. Sie trafen dort auf die Oberegger und vereinbarten mit ihnen nach hitziger Diskussion, den Mann liegen zu lassen, bis sich die Obrigkeit über die territorialen Verhältnisse geeinigt habe. Die Oberegger und der Bauer auf Kotzeren hatten anfänglich den Vertretern Ausserrhodens erklärt, dieses Geschäft gehe sie nichts an, obwohl der Tote auf dem gemeinsamen Territorium beider Stände lag. Noch mehr gekränkt war man in Ausserrhoden, als die Gegenpartei den Leichnam abends wegnahm, da er katholischer Konfession sei. Man erklärte, man werde beim Auffinden einer reformierten Leiche Gegenrecht halten.»
    Als ich das gelesen hatte, fiel mir wieder ein, was ich angesichts der Aufregung wegen des Leichenfunds völlig vergessen hatte: Auf meinem Weg zum «Nord» und zu Hans war ich ja an der Holzhütte im Hau vorbeigekommen, und die lag im Gebiet Kotzeren oder Chotzeren, wie es heute heisst. An jener Hütte war eine Tafel angebracht, welche dieselbe Geschichte erzählte. Ich erinnerte mich, dass ich diese Tafel fotografiert hatte. Das Bild fand sich rasch in meinem Archiv, und nachdem ich es auf Bildschirmgrösse vergrössert hatte, liess sich der Text leicht lesen:
    «Hier hat sich vor über zweihundert Jahren das Folgende zugetragen: Nach einem Leichenfund in diesem Wald eilten alsbald die Obrigkeiten der ausserrhodischen Gemeinde Wald und der innerrhodischen Gemeinde Oberegg zum Fundort. Beide Hauptleute machten ihr Recht auf die Leiche geltend. Zu damaliger Zeit fiel nämlich das Vermögen eines unbekannten Verstorbenen, von dem später herausgefunden wurde, dass er ohne direkte Erben ist, an diejenige Gemeinde, die den Leichnam bestattet hatte. Da die Auseinandersetzung zu keinem Ergebnis führte, kam man überein, die Leiche vorläufig liegen zu lassen, um den Streit höheren Orts vorzutragen. Gutgläubig gingen die Wäldler nach Hause und mussten am anderen Tag erbost feststellen, dass die wortbrüchigen Oberegger in der Nacht heimlich zurückgekommen waren. Sie hatten den Leichnam abgeschleppt und an geheimer Stelle im Innerrhodischen verscharrt. Das obrigkeitliche salomonische Verdikt hiess: Die nächste Leiche gehört den Wäldlern! (Das Konto ist immer noch offen …)»
    Auf einer zweiten Seite wird noch eine Botschaft des schweizerischen Bundesrates an die Bundesversammlung aus dem Jahr 1869 zitiert, wonach es unklare Grenzverhältnisse zwischen der innerrhodischen Gemeinde Oberegg und den ausserrhodischen Gemeinden Trogen, Wald, Heiden, Wolfhalden, Walzenhausen und Reute seit der Landestrennung im Jahr 1597 gegeben habe und gebe.
    Was aber wollte mir diese Geschichte sagen? Sicher, es ging auch da, wie in meiner jüngsten Geschichte, um einen Leichenfund, und zwar an einem Ort, der in der Luftlinie gemessen gerade mal rund einen Kilometer von «meinem» Fundort entfernt lag. Allerdings lag diese Geschichte mehr als zweihundert Jahre in der Vergangenheit, und die Grenzkonflikte zwischen den Katholiken und Reformierten beider Appenzeller Halbkantone waren längst beigelegt. Sicher, es gab immer noch Unterschiede zwischen den beiden Halbkantonen. Neulich hatte ich eine interessante Statistik gesehen. Demnach hatte sich zwischen 1986 und 2010 im katholischen Innerrhoden die Zahl der Scheidungen nur leicht von 0,7 auf 1,0 pro tausend Einwohner erhöht, im reformierten Ausserrhoden dagegen von 1,5 auf rekordverdächtige 2,7 fast verdoppelt.
    So was war zwar interessant, wies aber nicht auf konfessionelle Konflikte mit blutigem Ausgang hin. Schliesslich war es schon damals beim umstrittenen Leichenfund nur vordergründig um konfessionelle Unterschiede gegangen, in Wirklichkeit jedoch, wie die realistischere zweite Variante der Geschichte suggeriert, einfach nur ums schnöde Geld. Sollte das die Botschaft der rätselhaften Botschaft sein?
    Nur: Der Fundort meiner Leiche lag eindeutig auf dem Boden Ausserrhodens, nicht auf einer Grenze. Oder doch? Ich erinnerte mich daran, dass ich im Zuge meiner Arbeiten für besagte Homepage eine sehr genaue Karte erhalten hatte, die noch irgendwo sein musste. Nach einigem Suchen fand ich sie, und tatsächlich war sie mit einem Massstab von 1   :   5.000 sehr präzise.
    Ich musste mich erst mal orientieren, doch dann fand ich bestätigt, was ich insgeheim längst vermutet hatte, ohne dass mir dieses Wissen bewusst geworden war: Der eigentliche
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