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Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Titel: Moonshine - Stadt der Dunkelheit
Autoren: Alaya Johnson
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bewegte der Körper sich dabei überhaupt nicht. Keine Luft drang in die Lunge ein oder entwich. Ich erschauderte.
    »Vampire sind auch Geschöpfe unserer Erde«, sagte ich leise, um mich zu beruhigen. Ich war nicht oft dabei gewesen, wenn Vampire erwachten, doch meine Kenntnisse reichten aus, um zu wissen, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, den Jungen sicher unterzubringen. Er war augenscheinlich nicht älter als elf Jahre und würde sicher wilder als die meisten anderen sein. Mühsam kletterte ich vom Fahrrad, als der Junge auch schon anfing, sich ernsthaft zu rühren. Seine Bewegungen erwischten mich unvorbereitet, und im nächsten Moment fand ich mich, mit einem zwar schwachen, aber dennoch wehrhaften Vampir ringend, der Länge nach auf dem vereisten Fußweg im Schatten der Schule liegend wieder.
    »Oh, verdammter Mist«, murmelte ich. Gut, eins nach dem anderen.
Steh auf, Zephyr. Du musst in einer Minute zum Unterricht erscheinen.
Mit grimmiger Entschlossenheit stellte ich einen Fuß auf eine wie durch ein Wunder eisfreie Stelle des Gehwegs und kam schwankend in die Hocke. Ich begann, ein Schlaflied zu summen, das meine Mama so gern gesungen hatte, als ich noch ein Kind war – möglicherweise wirkte es ja genauso beruhigend auf kleine Vampire? Doch der Junge wurde stärker, und das Stöhnen entwickelte sich zu einer Art ersticktem Schrei. Die wenigen Leute, die in dieser düsteren, schlecht beleuchteten Gegend noch unterwegs waren, hasteten an mir vorbei und hielten den Blick fest auf den Gehweg gerichtet.
    »Ich könnte hier gerade sterben!«, schrie ich ihnen hinterher.
So. Verdammte, herzlose Stadt.
Mit der linken Hand hielt ich den Jungen fest, der sich aus meinem Griff zu winden versuchte, während ich mit der anderen mein Fahrrad aus dem Rinnstein zog. Dann schleppte ich beide zur Treppe, die zum Eingang der Schule führte.
    »Brauchen Sie vielleicht Hilfe, Miss Hollis?«
    Einen Moment lang erstarrte ich. Unwillkürlich umklammerte ich den Lenker meines Fahrrades so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich kannte diese Stimme. Und ich konnte nicht sagen, dass ich sehr erfreut war, sie zu hören. Mit einem Lächeln, das vermutlich mehr als ein bisschen gestresst wirkte, wandte ich mich zu ihm um.
    Die Arme lässig vor der Brust verschränkt, lehnte er auf halber Höhe der Treppe an der Steinbrüstung. Amir, wie er sich vorgestellt hatte, als er in der letzten Woche zum ersten Mal in meinem Unterricht aufgetaucht war. Kein Nachname – oder jedenfalls keiner, den er mir nennen wollte.
    Er erinnerte mich an Rudolph Valentino in
Der Scheich
: fremd, gutaussehend, gefährlich, aber dunkler, die Züge breiter und insgesamt ein bisschen attraktiver. Zwar hatte er einen sonderbaren Akzent, doch ansonsten sprach er makelloses Englisch. Bis auf ein einziges Mal: Als ich ihn nach der ersten Unterrichtsstunde gefragt hatte, warum um alles in der Welt ausgerechnet
er
einen Kurs in »Lesen, Schreiben und Rhetorik« bräuchte, hatte er nahezu perfekt einen russischen Einwanderer nachgeahmt, der erst vor zwei Monaten von Bord gegangen war.
    »Der Junge ist gerade erst gewandelt worden«, stellte er nun fest und wies mit einem Nicken auf das Kind, ohne sich jedoch zu rühren.
    Ich biss die Zähne zusammen. »Das ist mir auch klar, Amir.«
    »Sie haben die Situation also unter Kontrolle?«
    Just in diesem offenbar vorherbestimmten Moment gab der Junge ein ohrenbetäubendes Knurren von sich und schlug seine vorpubertären Fangzähne in den (mittlerweile recht zerknitterten) Kragen meiner Bluse.
    »Du kannst ein Kleidungsstück nicht aussaugen, du idiotischer …« Ich war gezwungen, meinen kleinen Vortrag zu unterbrechen, weil der Junge mit einer unglaublichen Geschwindigkeit die Beine um meine Taille geschlungen und mich zu Fall gebracht hatte.
    Amir erreichte mich eine Sekunde später und versuchte, den Jungen von mir zu lösen, der wie ein übernatürlicher Blutegel an mir hing.
    »Wie spät ist es?«, schrie ich über die wimmernden Laute hinweg, die der Junge machte, während er sich weiterhin bemühte, meinen Hals freizulegen. Ja, ja, die unerkannten Vorteile konservativer Blusen.
    Amir hielt inne. Er wirkte ziemlich verblüfft, was mich trotz der widrigen Umstände außerordentlich freute. »Ist das Ihr Ernst?«, fragte er.
    Ich schlug die Hand des Jungen weg, die noch immer in dem Fäustling steckte und nun über meine Brust wanderte, während ich den Rücken gegen die Steinbrüstung der Treppe
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