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Monde

Titel: Monde
Autoren: Dan Simmons
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Vater hielt ihn fest und lehrte ihn schwimmen, aber sie waren nicht am North Avenue Beach in den Untiefen des Lake Michigan; sie befanden sich auf dem Gipfel des Bear Butte, und das Licht war seltsam, sanft und braun und doch ausgesprochen intensiv, so klar wie das Wetterleuchten, das einmal die Besucher der Gratisvorstellung in Glen Oaks kleinem Park beleuchtet und alle in der Zeit eingefroren hatte.
    Es gab auf dem Bear Butte keinen See zum Schwimmen, aber Baedecker bemerkte, dass die Luft selbst dick und zäh wie Wasser war, und sein Vater hielt ihn in der Waagerechten, einen Arm unter Baedeckers Brust, den anderen unter seinen Beinen. »Der Trick besteht darin, sich zu entspannen, Richard«, sagte er. »Hab keine Angst, das Gesicht zu senken. Halt einen Moment die Luft an. Du wirst schweben. Und wenn nicht, bin ich da und pass auf dich auf.«
    Bevor Baedecker den Kopf neigte, sah er seinen Vater an, studierte das vertraute, nur Zentimeter entfernte Gesicht, den Mund, den er immer kennen würde, die dunklen Augen und das dunkle Haar, das so anders war als seines, und das leise Lächeln, das er geerbt hatte. Er musterte seinen Vater in den ausgebeulten Badehosen, die Bräune, die an den Oberarmen aufhörte, den leichten Bauch, die blasse Brust, die sich infolge des Alters einwärts krümmte. Baedecker senkte gehorsam das Gesicht, aber vorher legte er es, wie immer, an den Halsansatz seines Vaters und sog den Geruch von Seife und Tabak ein, fühlte das leichte Kratzen wachsender Bartstoppeln und dann, was früher nie geschehen war, niemals, schlang er beide Arme um den Hals seines Vaters, presste die Wange an die seines Vaters, drückte fest und spürte, wie das Drücken erwidert wurde.
    Dann beugte er sich vor und hielt den Atem an, streckte Arme und Beine aus, bis sein ganzer Körper eine einzige Ebene bildete, gerade, aber entspannt.
    Und er schwebte.
    »Ist doch ganz einfach, oder?«, sagte sein Vater. »Nur zu. Ich pass auf, falls du Angst kriegst.«
    Baedecker schwebte höher, stieg mühelos über die Felsen und Pinien des Gipfels, trieb ohne Anstrengung in der leichten Strömung, und als er nach unten schaute, war sein Vater nicht mehr da.
    Baedecker atmete aus, atmete ein, ruderte gelassen mit Armen und Beinen und schwamm mit langgezogenen, sicheren Bewegungen aufwärts. Weiter oben war die Strömung wärmer. Er passierte zwei Kumuluswolken mit flachen Bäuchen und schwebte weiter, weil er nicht ausruhen musste. Er schwamm höher und ließ den Berg unter sich zurück, bis dieser nur noch ein dunkles Muster unter dem Wolkenteppich bildete, das man nicht mehr von der Geometrie der Ebenen und Wälder und Flüsse unterscheiden konnte. Als die Strömung deutlich stärker und kälter wurde, zögerte Baedecker und trat die dicke, tragende Luft mit mühelosen Bewegungen von Armen und Beinen. In dem wunderbaren Licht konnte er ausgezeichnet sehen. Die lange, anmutige Krümmung des Horizonts im Süden bot dem Auge kein Hindernis.
    Baedecker schaute nun genauer hin und entdeckte das Space Shuttle auf seiner Startrampe, wo soeben die Kräne weggezogen wurden, und die blaue Sichel des Atlantik dahinter. Die Menschen auf den Tribünen neben dem hohen, weißen Gebäude standen inzwischen alle, und viele rissen die Arme nach oben, als gleißende Flammen unter der Rakete zündeten und dafür sorgten, dass sie sich auf einer Feuersäule erhob, langsam zuerst, dann immer schneller, wie ein großer, weißer Pfeil, der vom Bogen der Erde abgeschossen worden war, und schließlich kippte, während sich das Feuer seines Fluges in lange Säulen und Schwaden duftenden Rauchs auflöste. Baedecker spähte dem weißen Raumschiff hinterher, bis es sich von ihm abwandte und selbstbewusst hinter die Krümmung von Meer und Atmosphäre sank. Dann drehte er sich, um Scott in der Menge der Zuschauer zu finden, erkannte ihn mühelos und bemerkte, dass auch Scott die Arme erhoben, die Fäuste geballt und den Mund zum selben stummen Gebet geöffnet hatte, das auch alle anderen sprachen, während sie dem weißen Pfeil des Raumschiffs auf den Weg halfen, und Baedecker konnte die Tränen auf dem freudestrahlenden Gesicht seines Sohnes sehen.
    Er schwamm höher. Jetzt fühlte er die Kälte an sich zehren, achtete aber nicht darauf und strengte sich an, die Strömungen und Drücke zu überwinden, die ihn zurückziehen wollten. Und dann bestand plötzlich keine Veranlassung mehr, sich weiter anzustrengen, und Baedecker schwebte hoch hinauf, der Planet
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