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Mörderische Harzreise (German Edition)

Mörderische Harzreise (German Edition)

Titel: Mörderische Harzreise (German Edition)
Autoren: Helmut Exner
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zeigen, die vom Balkon stürzte. Frau Henning wusste nicht, was der Herr meinte und ging mit ihm zu dem Gemälde. Ein fürchterlicher Schreck fuhr ihr in die Glieder. Die Frau in Weiß stand nicht mehr am Balkon, sondern befand sich im freien Fall Richtung Erdboden, mit dem Kopf nach unten. Sofort ließ sie das Bild abhängen. Dabei stellte man fest, dass die Farbe auf dem Bild nicht feucht war. Die Stellen, an denen es verändert worden war, war genauso trocken wie alle anderen Details des Gemäldes. Frau Henning verbannte das Bild auf den Speicher. Und da blieb es auch für lange Zeit. Außerdem bat sie die Gäste, die Zugang zum Balkon hatten, eindringlich, diesen nicht mehr zu benutzen. Als sie zwei Tage später frühmorgens zum Bäcker gehen wollte, fand sie auf den Stufen vor dem Haus eine Frau, die ihr Zimmer direkt darüber hatte. Die Frau war tot. Offensichtlich hatte sie sich das Genick gebrochen. Die herbeigerufene Polizei ging von einem Selbstmord aus. Die Frau war völlig vereinsamt gewesen und hatte melancholische Züge, wie man das damals auszudrücken pflegte.
    Kurz darauf verkaufte Frau Henning das Haus an eine Familie Siebert, die den Pensionsbetrieb weiterführte. 1940 fand man auf dem Speicher das schöne Gemälde und kam auf die Idee, es im Treppenhaus aufzuhängen. Es befand sich in seinem ursprünglichen Zustand. Die Frau in Weiß stand auf dem Balkon und erfreute sich an dem schönen Wetter und der Landschaft. Mit zunehmender Heftigkeit des Bombenkrieges wurden in das Haus Stadtkinder einquartiert, und ab Ende 1944 Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Im Jahr 1948 stellte Frau Siebert eines Tages fest, dass mit dem Bild etwas nicht stimmte. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie das Bild das letzte Mal bewusst angeschaut hatte. Auf jeden Fall war da etwas anders als sonst. Die Frau in Weiß war verschwunden. Stattdessen hing nur noch ein weißer Schal über dem Balkongeländer. Ganz erschrocken zeigte sie es ihrem Mann, der sich keinen Reim darauf machen konnte.
    Ein paar Tage später meldete Herr Siebert, ein Kriegsinvalide, seine Frau als vermisst. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihr sein könnte. Jedenfalls tauchte Frau Siebert nie wieder auf. Ihr Mann ließ das Bild hängen, in der Hoffnung, dass die Frau in Weiß eines Tages wieder in Erscheinung treten würde – und damit vielleicht auch seine Frau. Aber das Warten war vergebens.
    Als Ferdinands Vater das Haus kaufte, berichtete Herr Siebert über die Vorfälle mit dem Bild. Dieser fand die Schauergeschichten zwar interessant, ja insgeheim amüsierte er sich sogar darüber. Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich hierbei um reale Vorgänge handelte. Selbstverständlich ließ er das Bild hängen.
    Im Jahre 1960 schließlich gellte ein Schrei durch das Haus. Susanne Dünnbier, Ferdinands Mutter, hatte entdeckt, dass die Frau in Weiß sich wieder auf dem Gemälde befand. Alle im Haus, ihr Gatte, die beiden erwachsenen Söhne, die Putzfrau, rannten zur Treppe, um zu sehen, was dort Furchtbares passiert war. Die Putzfrau, die die Geschichte des Bildes auch kannte, wurde bleich im Gesicht. Herr Dünnbier allerdings war der Meinung, dass sich jemand einen Scherz erlaubt habe.
    Als Frau Dünnbier ein paar Tage später eine weitere Veränderung an dem Bild feststellte, wurde sie hysterisch. Die Frau in Weiß hatte Flügel bekommen und schwebte engelgleich über dem Haus. Keine Stunde würde sie mehr in diesem Haus bleiben. Sie packte ihre Sachen und ließ sich von ihrem Sohn Ferdinand zum Bahnhof nach Goslar fahren, wo sie den nächsten Zug nach Hannover nahm, dem eigentlichen Wohnsitz der Dünnbiers. Ihr Mann wollte sich die geruhsamen Tage im Harz nicht durch das hysterische Verhalten seiner Frau zerstören lassen und blieb. Abends bekam er dann einen Anruf von der hannoverschen Polizei, dass seine Frau an den Folgen eines tragischen Unfalls gestorben sei.
    Danach stand das Haus viele Jahre lang leer und gammelte vor sich hin. Herr Dünnbier betrat das Haus nie wieder und starb zwei Jahre später. Zuvor hatte er seinen Sohn Eduard enterbt, weil dieser kein Interesse am Geschäft hatte und nur auf sein Erbe wartete. Folglich stand Ferdinand in der Pflicht. Große Lust an den Geschäften seines Vaters hatte er zwar auch nicht, aber das Pflichtgefühl war stärker. Außerdem hätte er gar nicht gewusst, was er sonst tun könnte. Er kannte ja nur die Arbeit in der Firma seines Vaters. Sein Leben war seiner Meinung
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