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Mittsommersehnsucht

Mittsommersehnsucht

Titel: Mittsommersehnsucht
Autoren: Elfie Ligensa
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ihre Beine sehen ließ. Beine, die ihn so oft umklammert hatten …
    Sollte er hinüber nach Ålesund fahren und mit Andrea reden?

4
    B ald ist Mittsommer. Dann tanzen die Elfen und Feen aus dem Wald heraus, sie treffen sich auf den Hügeln und den Felsen mit den Trollen. Dann feiern sie ein Fest, das drei Tage lang dauert. Sie essen, trinken Milch und …«
    »Trolle mögen keine Milch. Bestimmt nicht!«
    »Doch, doch, Kleines, ganz bestimmt. Die Trolle wollen nämlich noch wachsen und groß und stark werden.« Dunkel und sanft klang die Männerstimme, und Andrea, die an der Reling stand und gedankenverloren in den hellen Nachthimmel geschaut hatte, hörte fasziniert weiter zu. »Du weißt doch, Kim, dass Trolle nur vier Finger und vier Zehen haben. Nicht fünf, wie wir Menschen. Und sie hoffen, wenn sie fleißig essen und trinken, dass ihnen dann noch ein weiterer Finger und auch ein fünfter Zeh wachsen.«
    »Du machst Witze, Ole. Das stimmt gar nicht.« Ein trockenes Husten folgte den leisen Worten. »Aber ich nehme noch ein bisschen Joghurt.« Pause. »Du musst jetzt aber weitererzählen, ja?«
    »Du solltest schlafen, Kim. Es ist weit nach Mitternacht.«
    »Ich weiß. Aber ich bin nicht müde, Ole. Bestimmt nicht. Außerdem liege ich ganz bequem und ruhe mich aus. Die Sonne … sieh nur, sie steht genau zwischen den zwei Bergen. Wie schön!« Sehnsucht, in die sich leise Trauer mischte, war aus den Worten herauszuhören. »Und dahinten feiern sie. Ich kann die Feuer sehen. Und die Musik hören.«
    »Ja, du hast recht, da sind drei Feuer. Sicher kommen dann auch gleich die Trolle und tanzen um den Reisigberg.«
    »Ole! Aber in Wirklichkeit gibt es gar keine Trolle.«
    »Wie kannst du so etwas sagen? Natürlich gibt es die. Das weiß doch jeder Norweger!«
    »Der Doktor in der Klinik hat aber gesagt …«
    »Was weiß der denn schon! Gar nichts.« Die sonst so sanfte, warme Männerstimme hatte einen harten Unterton angenommen.
    »Der Doktor Daniel war aber sehr nett. Er hat mir neue Haare gekauft, weil meine doch ausgefallen sind. Und er hat mir Buffy geschenkt. Das ist ein Hund, wie er in seiner Heimat lebt. Ganz groß werden die. Fast so groß wie unsere Rentiere. Sie heißen Bernhardiner.«
    Eine Tür klappte, für einen Moment hörte man fröhliche Musik aus dem Schiffsinnern. Die meisten der Passagiere und auch der Teil der Besatzung, der dienstfrei hatte, feierte die Mittsommernacht. Es war ein ganz besonderes Fest, und kaum jemand versäumte es, dabei zu sein.
    Andrea hatte sich diesen Tag, diese besondere Nacht ganz anders vorgestellt, als sie in Düsseldorf aufgebrochen war. Sie biss sich auf die Lippe. Nur nicht weinen! Es war vorbei. Und es war gut, dass sie Jonas durchschaut hatte, bevor sie ihm das Jawort gegeben hatte.
    »Ole …«
    »Ja, Kim?«
    »Ich hab Schmerzen. Und die Sonne … ich kann sie gar nicht mehr sehen …«
    »Sie ist hinter den Bergen verschwunden.« Oles Stimme klang rau.
    Andrea runzelte die Stirn. Warum log der Mann? Die Sonne war noch genau dort zu erkennen, wo sie auch vor fünf Minuten zu sehen gewesen war – ein heller, weißgelber Ball zwischen zwei Bergspitzen. Aber vielleicht hatte sie sich auch verhört. Schließlich war ihr Norwegisch noch lange nicht perfekt. Seit Jonas und sie ein Paar waren, lernte sie eifrig seine Muttersprache. Noch konnten sie sich auf Englisch verständigen, und auch in den großen Städten würde sie damit weiterkommen. Aber wenn sie erst einen Job an der Klinik hatte und mit vielen Menschen zusammenkam, war es wichtig, sich in der Landessprache verständigen zu können.
    »Sing etwas, Ole. Bitte!«
    Der Mann räusperte sich, dann begann er leise zu singen – es war der typische Joik-Gesang der Samen. Er erinnerte Andrea an die Gesänge der alten Indianer. Es war kein fröhliches Lied, das Ole anstimmte, sondern es klang wie ein immerwährendes Schluchzen, das zu einer traurigen Melodie geworden war.
    Eine ganze Zeitlang sang er leise vor sich hin, der Joik-Gesang mischte sich mit den Discoklängen, die jetzt aus dem Schiffsinnern kamen.
    Am rechten Ufer loderten fünf große Feuer, in den Sträuchern, die sich mühsam Platz zwischen bizarren Felsen geschaffen hatten, hingen bunte Lampions. Laute, fröhliche Rufe schallten zum Schiff herüber. Andrea hob die Hand und winkte den Feiernden zu.
    Als sie sich umwandte, waren Ole und Kim nicht mehr zu sehen.

5
    F rau Sandberg!« Laut wurde an die Kabinentür geklopft.
    »Einen Moment bitte!«
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