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Mit reinem Gewissen

Mit reinem Gewissen

Titel: Mit reinem Gewissen
Autoren: Joachim Pereis
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der »Historischen Zeitschrift« veröffentlicht wurde. Die Frage nach der Wirkung des Nationalsozialismus im Bewusstsein der Gegenwart beantwortete Lübbe mit der – von vielen Autoren aufgegriffenen – These, »dass die Erbschaft nationalsozialistischer Vergangenheit, die diese Republik zu tragen hatte, […] ihr nicht hinderlich gewesen« sei.
    Wie wenig dies zutreffend ist, zeigen etwa Untersuchungen von Wolfgang Abendroth, Thilo Ramm und Heinrich Hannover zur Kontinuität nationalsozialistischen Rechtsdenkens im Verfassungsrecht, im Arbeitsrecht und im politischen Strafrecht. Carl Schmitts im NS-Staat besonders wirksam gewordenes Theorem, im Ausnahmezustand trete das Recht zurück, die Ordnung bliebe aber erhalten, diente der Bundesregierung bei der Einbringung des Notstandsverfassungsgesetzes im Jahre 1960 als Legitimation dafür, dass – anders als in westlichen Demokratien wie den USA – Kernprinzipien des demokratischen Rechtsstaats – wie die Sicherung der Stellung des Parlaments und der Grundrechte – im Ausnahmezustand suspendiert werden sollten. Das Ideologem von der Volksgemeinschaft, das den sozialen Gegensatz von Kapital und Arbeit aufzuheben vorgab, bildete in der frühen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts |16| ein Leitmotiv. Bei der Praktizierung des politischen Strafrechts von 1951 war die auf die Gesinnung anstelle der Erfüllung konkreter Tatbestände gestützte Pönalisierung politischen Verhaltens (zumeist von Kommunisten, die z. B. am 1. Mai eine rote Nelke trugen, die von der Justiz als Ausdruck von Staatsfeindlichkeit gewertet wurde), sehr verbreitet. Methodisch war die politische Justiz mit der nationalsozialistischen Strafrechtsdogmatik in mancher Beziehung vergleichbar. In der NS-Dik tatur wirkte die Abwesenheit einer nationalsozialistischen Rechtsgesinnung strafbegründend, selbst wenn kein Rechtsgut verletzt wurde.
    Die Problematik einer Kontinuität nationalsozialistischen Rechtsdenkens, die in den meisten Untersuchungen zur Geschichte der Bundesrepublik als bloßes Randphänomen erscheint, wird in diesem Band – auch mit der Erschließung bisher nicht zugänglicher Quellen – an einzelnen exponierten Wehrmachtjuristen, die in der Justiz und in der universitären Rechtswissenschaft tätig waren, untersucht. Die Ergebnisse, die wir vorlegen, sind bemerkenswert.
    Im allgemeinen Bewusstsein wurde fast völlig verdrängt, dass sowohl die Alliierten als auch deutsche politische Kreise einen Bruch mit dem Justizapparat der NS-Diktatur anstrebten. Die Ansätze zur rechtsstaatlich-demokratischen Umgestaltung der gerichtlichen Institutionen in der ersten Nachkriegsperiode schlugen sich beispielsweise in einer frühen Äußerung Heinrich v. Brentanos nieder, des späteren Außenministers unter Adenauer und CDU-Fraktionsvorsitzenden: »Die deutsche Justiz hat zum großen Teil zu den Verbrechen des Dritten Reichs geschwiegen; sie hat zu großen Teilen die Verbrechen des Dritten Reichs gedeckt und sie hat zu großen Teilen Verbrechen begangen.« Zu dem von allen politischen Kräften – bis auf starke Kräfte in der FDP – intendierten Neubeginn gehörte der bis Anfang der 1950er-Jahre tätige Oberste Gerichtshof der Britischen Zone, dessen Rechtsprechung sich am Begriff des »gesetzlichen Unrechts« (Gustav Radbruch) orientierte.
    Das Ziel einer institutionellen Abkehr vom nationalsozialistischen |17| Justizsystem verlor erst durch eine Gegenbewegung an Bedeutung, die Ende der 1940er-Jahre vor allem von rechtswissenschaftlichen Professoren, von Beamtenverbänden und von maßgeblichen Kräften der CDU und der FDP getragen wurde. Die wichtige Rolle, die einstige Wehrmachtjuristen dabei spielten, wurde lange nicht erkannt, folgten ihre geschichtspolitischen Aktivitäten doch der These, die Wehrmacht habe – entsprechend den weitverbreiteten Memoiren von Albert Kesselring und Erich v. Manstein – mit den Massenverbrechen des NS-Systems nichts zu tun gehabt. Der Wehrmachtjustiz wurde rechtsstaatliche Distanz zur nationalsozialistischen Führung und besonders zu Hitler zugeschrieben. Kritik an der Rolle der Wehrmachtjuristen konnte sich nach 1945 kaum herausbilden, zumal auch bei den Besatzungsmächten, vor allem bei den Briten, die Auffassung verbreitet war, dass sie eine rechtlich korrekte Rolle gespielt hätten.
    Wie neuere Forschungen zeigen, führte die Inkorporation von Wehrmachtjuristen in die Justiz des demokratischen Rechtsstaats dazu, dass sie zentrale Entscheidungen prägen
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