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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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nämlich auf Insektenstiche, Splitter und aufgeschürfte Knie. Was konnte sie schon für einen Mann mit allen möglichen schweren Verletzungen tun? Vielleicht hatte er innere Blutungen, oder sogar … Sie musste sich Einhalt gebieten, sich nicht die schauerlichsten Verletzungen auszumalen, sonst würde sie vor lauter Schreck erstarren. Sie hatte versprochen zu helfen, und jetzt musste sie zu ihrem Wort stehen.
    Als die Straße scharf nach rechts abbog, blieb Ned stehen. Links im Graben lag der umgekippte, ramponierte Gig. Ein Stück weiter stand die Stute mit blutig aufgeschlagenen Beinen, das cremefarbene Fell bespritzt mit Schlamm. Ein Teil des Geschirrs hing ihr verdreht auf den Schultern. Ned hatte sie schnell an einen Baum gebunden und dabei einen Teil der Zügel benutzt. Jetzt deutete er auf einen Mann, der hinter dem Gig im Unterholz lag. Der graue, trübe Nachmittag ging in die Abenddämmerung über, und aus der Ferne war die zusammengekauerte Gestalt kaum erkennbar. Es hätte alles Mögliche sein können.
    »Da liegt er, Miss. Muss zu schnell um die Ecke da gebogen sein. Er hat versucht, zum Stehen zu kommen, aber die Stute is auf dem nassen Boden ausgerutscht, und sie sind umgekippt.«
    »Ja, verstehe.« Mary verzog das Gesicht, als sie sich die Szene vorstellte. Wahrscheinlich war alles ganz schnell gegangen: Erst war er frohgemut dahingefahren, und im nächsten Moment … »Helfen Sie mir bitte, damit ich zu ihm kommen kann?« Sie ergriff Neds Hand und glitt langsam den nassen Abhang hinunter. Unten angekommen bemühte sie sich, dem Gestrüpp aus jungen Ästen und dornigen Zweigen auszuweichen. Als sie sich der still und bewegungslos daliegenden Gestalt näherte, wurde ihr auf einmal schwindlig. Das ihr zugewandte Gesicht sah auf dem durchweichten Boden totenbleich aus.
    »Als ich ihn fand, war er noch bei Bewusstsein«, flüsterte Ned, »sagte, er heißt William Tracey. Ich glaub, dem geht’s richtig dreckig.«
    Mary nickte und zwang sich, tief durchzuatmen. Sie kniete neben dem Verletzten und fühlte bald, wie Kälte und Nässe ihr durch Mark und Bein gingen.
    Ned fuhr fort: »Ich kümmere mich erst um die Stute, und dann versuch ich, den Gig in Ordnung zu bringen. Rufen Sie, wenn Sie mich brauchen, ja?«
    »Gewiss.«
    WilliamTracey hatte blondes Haar, sah jünger als Mr.Treadgill aus und war ordentlich gekleidet: Er trug einen dunkelgrünen Reisemantel, Stulpenstiefel und einen vornehmen, traurigerweise jetzt aber eingedrückten Hut. Wenn er nicht in den matschigen Graben geflogen wäre, hätte man ihn wohl als einen gutaussehenden Mann beschrieben. Mary zog ihm einen Lederhandschuh aus und nahm seine Hand. Da sie kalt war, rieb sie sie vorsichtig. Wie lange hatte er hier wohl schon gelegen? Dann wischte sie ihm mit einer der Servietten über die Stirn. »Mr. Tracey, können Sie mich hören?«, fragte sie ihn.
    Da schlug er die Augen auf. »Was ist passiert?«, murmelte er.
    Sie erklärte ihm, er habe einen Unfall gehabt, und sprach unbewusst so langsam und bedächtig, als redete sie mit einem Invaliden, Ausländer oder Schwerhörigen. »Wir haben nach einem Arzt geschickt. Er kommt, so schnell er kann.«
    »Gefährliche Kurve.«
    »Ja, es war wohl sehr rutschig. Kann ich … irgendetwas tun, damit Sie sich wohler fühlen?« Sein rechtes Bein lag unnatürlich verdreht da, und sie ängstigte sich davor, es zu strecken. Bei dem Gedanken daran vergaß sie, langsam zu sprechen. »Ihr Bein ist möglicherweise gebrochen. - Haben Sie große Schmerzen?«
    »Nein«, sagte er mit einem Seufzer, »ich spüre es gar nicht. Wer sind Sie?«
    »Mein Name ist Mary Finch. Unsere Kutsche hielt an, als wir sahen, dass Sie verletzt sind. Die anderen sind vorgefahren, um einen Arzt zu holen.«
    »Was - wo ist der andere?«
    »Meinen Sie Ned, den Kondukteur? Soll ich ihn holen gehen?«
    »Nein«, flüsterte Tracey und schloss die Augen. Sein Mund stand offen, und er atmete flach und keuchte dabei.
    Er sah aus, als ob er gleich wieder das Bewusstsein verlieren würde. Mary löste ihm die Halsbinde und knöpfte die Pelerine auf, um ihm etwas Erleichterung zu verschaffen. Dann fiel ihr das Kräuterelixier wieder ein. Auf dem Etikett stand: Dr. Fairweather’s Elixier. Ein natürliches Tonikum hergestellt aus Mineralien, Adstringenzien und Aqua-vitae. Lieferant des Herzogs von Ligurien. Zur Stärkung des körperlichen Wohlbefindens, der Kräftigung und derVerbesserung der Gesundheit. Dreimal täglich einen Löffel einnehmen.
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