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Milchbart (German Edition)

Milchbart (German Edition)

Titel: Milchbart (German Edition)
Autoren: Jutta Mehler
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mächtige Herrscher mit Kräuselbart und Lockenmähne? Ah, verstehe, auch dafür gibt Lanz nicht genügend her. Er war ja so unbehaart wie ein Hühnerei.« Sie tat, als würde sie scharf nachdenken. »Ist mir je ein Mythos untergekommen, in dem von einem glatzköpfigen Göttervater die Rede ist? Wen kann dein Neffe bloß vor Augen gehabt haben?«
    »Wotan«, schnappte Hilde.
    Thekla grinste breit. »Hätte ich mir ja denken können. Liest dein Neffe immer noch so gern in seiner Sammlung nordischer Göttersagen?«
    Hilde presste ärgerlich die Lippen aufeinander.
    »Zeus, Wotan«, mischte sich Wally ein. »Kommt das nicht auf dasselbe heraus?« Träumerisch fuhr sie fort: »Unser Dichter gleicht tatsächlich einem heidnischen Göttervater: ein bisschen verlebt, ein bisschen von Ausschweifungen gezeichnet, aber machtvoll.«
    Thekla ignorierte sie und fragte stattdessen Hilde: »Hat Rudolf dem Dichter einen Kriegerhelm aufgesetzt und einen Speer in die Hand gedrückt? Oder was sonst soll ihn wie Wotan aussehen lassen?«
    »Mein Neffe«, erwiderte Hilde blasiert, »hat aus Hermann Lanz einen bayerischen Wotan gemacht – mit Janker, Trachtenhut und Schnupftabakdose.«
    Um nicht laut herauszuprusten, schob sich Thekla schnell einen großen Happen von ihrem Tortenstück in den Mund, schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Mokka-Nuss-Geschmack.
    Sie hörte Wally plappern, ließ die Worte jedoch unbeachtet an sich vorbeihüpfen.
    Als Thekla die letzte würzige Süße von der Zunge saugte, fiel ihr auf, dass es am Tisch still geworden war. Sie öffnete die Augen, sah Hilde von ihrem Tee trinken, Wally sich die Nase putzen und wollte gerade einen weiteren Bissen von ihrem Tortenstück abstechen, da murmelte Hilde mit der Tasse an den Lippen: »Er hat so komische Verfärbungen.«
    »Dein Tee?«, fragte Wally.
    Hilde schoss einen unwilligen Blick über den Tisch. »Von wem, zum Teufel, reden wir denn die ganze Zeit? Vom Dichter, Wally, vom toten Dichter. Lanz hat ganz seltsame Flecken – ominöse Flecken, sagt Rudolf.«
    Thekla legte die Gabel weg. »Bei einem, der sich zu Tode gesoffen hat, lässt sich ja vermutlich eine ganze Palette von Farberscheinungen feststellen: Die Haut ist von bläulichen Adern durchzogen. Die Nase glänzt lila. Zähne und Nägel sind bräunlich verfärbt. Falls die Leber nicht mehr mitgemacht hat, ist das Gewebe unter seiner Haut quietschgelb angelaufen. Außerdem«, sie verbiss sich ein Schmunzeln, »wird er wohl im Laufe der Zeit einen stattlichen Busen entwickelt haben – das kommt vom Östrogen im …«
    »Hör auf, hör sofort auf damit.« Wallys Glupschaugen traten hervor, als müssten sie jeden Moment auf ihren leer geputzten Teller purzeln. Sie schluckte hart.
    Hilde winkte Elisabeth an den Tisch, bestellte einen doppelten Cognac für Wally und wandte sich dann scharf an Thekla. »Das hättest du dir sparen können! Als ob du nicht genau wüsstest, wie empfindlich Wally ist. Und mir musst du keine Vorträge über die Auswirkungen von Alkoholmissbrauch halten, ich kenne die Zeichen besser als du. Im Gegensatz zu dir konnte ich sie oft genug studieren, als ich im Bestattungsinstitut noch selbst Verstorbene versorgt habe. Glaub bloß nicht, mich belehren zu können, nur weil du ab und zu in der Apotheke deines Bruders aushilfst.«
    Thekla ließ sich von Hildes rüdem Ton nicht beeindrucken. So benahm sich Hilde nun mal – und zwar schier jedem gegenüber. Schon zu der Zeit, als Hilde das Bestattungsinstitut Westhöll noch mit ihrem Mann geführt hatte, war sie für ihre Ruppigkeit Lebenden und Toten gegenüber bekannt gewesen. Bei Wally machte sie allerdings manchmal eine kleine Ausnahme, und Thekla hatte sich schon ab und zu Gedanken darüber gemacht, warum. Letztendlich war sie zu dem Ergebnis gekommen, dass Wally in Hilde sporadisch eine – normalerweise gut verborgene – mütterliche Saite zum Klingen brachte, denn Wally wirkte bisweilen wie ein etwas debiles Kind. Das war insbesondere dann der Fall, wenn sie anfing zu trällern »Komm mit nach Varaždin, solange noch die Rosen blühn.«
    Ja, Wally war unverbesserlich romantisch, beispiellos naiv, und sie schwärmte für Kitsch, Tand, Schlager aus den Sechzigern und für Operettenmelodien, die ihre beste Zeit hatten, als sie ausschließlich auf Schelllackplatten abgespielt werden konnten. Wenn Rudolf Schock »Ich bin nur ein armer Wandergesell« sang, traten ihr die Tränen in die Augen, und bei Fritz Wunderlichs »Treu sein,
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