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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
Autoren: dfg
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sei kein Inhalt einer Existenz.
So meine er es nicht, antwortete er. Er wolle das Leben erforschen, die seltsame Hartnäckigkeit verstehen, mit der es den Globus umspanne. Er wolle ihm auf die Schliche kommen!
Also durfte er bleiben und bei Wildenow studieren.
Im nächsten Semester wechselte der ältere Bruder an die Universität Göttingen. Während er dort seine ersten Freunde fand, zum erstenmal Alkohol trank und eine Frau berührte, schrieb der Jüngere seine erste wissenschaftliche Arbeit.
Gut, sagte Kunth, aber noch nicht gut genug, um unter dem Namen Humboldt gedruckt zu werden. Mit dem Veröffentlichen müsse man noch warten.
In den Ferien besuchte er den älteren Bruder. Auf einem Empfang des französischen Konsuls lernte er den Mathematiker Kästner kennen, dessen Freund Hofrat Zimmermann und den wichtigsten Experimentalphysiker Deutschlands, Professor Georg Christoph Lichtenberg. Dieser drückte ihm weich die Hand und starrte, bucklig, doch mit makellos schönem Gesicht, ein Klumpen aus Fleisch und Intelligenz, belustigt an ihm empor. Humboldt fragte ihn, ob es stimme, daß er an einem Roman arbeite.
Ja und nein, antwortete Lichtenberg mit einem Blick, als sehe er etwas, von dem Humboldt selbst nichts ahne. Das Werk heiße  Über Gunkel,  handle von nichts und komme überhaupt nicht voran.
Das Romanschreiben, sagte Humboldt, erscheine ihm als Königsweg, um das Flüchtigste der Gegenwart für die Zukunft festzuhalten.
Aha, sagte Lichtenberg.
Humboldt errötete. Somit sei es ein albernes Unterfangen, wenn ein Autor, wie es jetzt Mode werde, eine schon entrückte Vergangenheit zum Schauplatz wähle.
Lichtenberg betrachtete ihn mit schmalen Augen. Nein, sagte er dann. Und ja.
Auf dem Heimweg sahen die Brüder eine zweite, nur wenig größere Silberscheibe neben dem gerade aufgegangenen Mond. Ein Heißluftballon, erklärte der ältere. Pilâtre de Rozier, der Mitarbeiter der Montgolfiers, weile zur Zeit im nahen Braunschweig. Die ganze Stadt rede davon. Bald würden alle Menschen in die Luft steigen.
Aber sie würden es nicht wollen, sagte der Jüngere. Sie hätten zuviel Angst.
Kurz vor seiner Abreise lernte er den berühmten Georg Forster kennen, einen dünnen, hustenden Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe. Er hatte mit Cook die Welt umrundet und mehr gesehen als irgendein anderer Mensch aus Deutschland; jetzt war er eine Legende, sein Buch war weltbekannt, und er arbeitete als Bibliothekar in Mainz. Er erzählte von Drachen und lebenden Toten, von überaus höflichen Kannibalen, von Tagen, an denen das Meer so klar war, daß man meinte, über einem Abgrund zu schweben, von Stürmen, so heftig, daß man nicht zu beten wagte. Melancholie umgab ihn wie ein feiner Nebel. Er habe zuviel gesehen, sagte er. Eben davon handle das Gleichnis von Odysseus und den Sirenen. Es helfe nichts, sich an den Mast zu binden, auch als Davongekommener erhole man sich nicht von der Nähe des Fremden. Er finde kaum Schlaf mehr, die Erinnerungen seien zu stark. Vor kurzem habe er Nachricht bekommen, daß sein Kapitän, der große und dunkle Cook, auf Hawaii gekocht und gegessen worden sei. Er rieb sich die Stirn und betrachtete die Schnallen seiner Schuhe. Gekocht und gegessen, wiederholte er.
Er selbst wolle auch reisen, sagte Humboldt.
Forster nickte. Mancher wolle das. Und jeder bereue es später.
Warum?
Weil man nie zurückkommen könne.
Forster empfahl ihn an die Bergbauakademie in Freiberg. Dort lehrte Abraham Werner: Das Erdinnere sei kalt und fest. Gebirge entstünden durch chemische Ausfällungen aus dem schrumpfenden Ozean der Urzeit. Das Feuer der Vulkane komme keineswegs von tief innen, es werde genährt von brennenden Kohlelagern, der Erdkern sei aus hartem Stein. Diese Lehre nannte sich Neptunismus und wurde von beiden Kirchen und Johann Wolfgang Goethe verfochten. In der Freiberger Kapelle ließ Werner Seelenmessen für seine die Wahrheit noch leugnenden Gegner lesen. Einmal hatte er einem zweifelnden Studenten die Nase gebrochen, angeblich einem anderen vor vielen Jahren ein Ohr abgebissen. Er war einer der letzten Alchimisten: Mitglied geheimer Logen, Kenner der Zeichen, denen die Dämonen gehorchten. Er vermochte Zerstörtes wieder zusammenzufügen, aus dem Rauch das zuvor Verbrannte und aus dem Zerstoßenen wieder Festes zu formen, auch hatte er mit dem Teufel gesprochen und Gold gemacht. Intelligent wirkte er dennoch nicht. Er lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und fragte Humboldt, ob er Neptunist sei
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