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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
Autoren: dfg
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poetischem Gespür für Weite und Schönheit. Doch sei diese Seele selbst nur ein Teil, wenn auch der komplizierteste, der Maschinerie. Und er frage sich, ob das nicht der Wahrheit entspreche.
Alle Menschen Maschinen?
Vielleicht nicht alle, sagte der Jüngere nachdenklich. Aber wir.
Der Teich war zugefroren, die Dämmerung des Spätnachmittags färbte Schnee und Eiszapfen blau. Er habe ihm etwas mitzuteilen, sagte der Ältere. Man mache sich Sorgen um ihn. Seine schweigsame Art, seine Verschlossenheit. Die schleppenden Erfolge im Unterricht. Mit ihnen beiden stehe und falle ein großer Versuch. Keiner von ihnen habe das Recht, sich gehenzulassen. Er zögerte einen Moment. Das Eis sei übrigens ganz fest.
Tatsächlich?
Aber ja.
Der Jüngere nickte, holte Luft und trat auf den See. Er überlegte, ob er Klopstocks Eislaufode rezitieren sollte. Mit den Armen weit ausschwingend, glitt er zur Mitte. Er drehte sich um sich selbst. Sein Bruder stand leicht zurückgebeugt am Ufer und schaute ihm zu.
Auf einmal war es still. Er sah nichts mehr, und die Kälte nahm ihm fast die Sinne. Erst da begriff er, daß er unter Wasser war. Er strampelte. Sein Kopf prallte gegen etwas Hartes, das Eis. Seine Fellmütze löste sich und schwebte davon, seine Haare richteten sich auf, seine Füße schlugen auf den Boden. Jetzt hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Einen Moment lang sah er eine erstarrte Landschaft: zitternde Halme, darüber Gewächse, durchsichtig wie Schleier, einen einzelnen Fisch, eben noch da, jetzt schon weg, wie eine Täuschung. Er machte Schwimmbewegungen, stieg auf, prallte wieder gegen das Eis. Ihm wurde klar, daß er nur noch Sekunden zu leben hatte. Er tastete, und gerade als er keine Luft mehr hatte, sah er einen dunklen Fleck über sich, die Öffnung; er riß sich nach oben, atmete ein und aus und spuckte, das scharfkantige Eis zerschnitt ihm die Hände, er hievte sich empor, rollte sich ab, zog die Beine nach und lag keuchend, schluchzend da. Er drehte sich auf den Bauch und robbte auf das Ufer zu. Sein Bruder stand noch wie zuvor, zurückgebeugt, die Hände in den Taschen, die Mütze ins Gesicht gezogen. Er streckte die Hand aus und half ihm auf die Füße.
In der Nacht kam das Fieber. Er vernahm Stimmen und wußte nicht, ob sie Gestalten seiner Träume oder den Menschen gehörten, die sein Bett umringten, und immer noch spürte er die Eiseskälte. Ein Mann ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, wahrscheinlich der Arzt, und sagte, entscheide dich, gelingen oder nicht, das ist ein Entschluß, man muß dann nur durchhalten, oder? Aber als er darauf antworten wollte, erinnerte er sich nicht mehr, was gesagt worden war, statt dessen sah er ein weit ausgespanntes Meer unter einem elektrisch flackernden Himmel, und als er wieder die Augen öffnete, war es Mittag am übernächsten Tag, die Wintersonne hing bleich im Fenster, und sein Fieber hatte nachgelassen.
Von nun an wurden seine Noten besser. Er arbeitete konzentriert und nahm die Gewohnheit an, beim Nachdenken die Fäuste zu ballen, als müsse er einen Feind besiegen. Er habe sich verändert, schrieb ihm Henriette, ein wenig mache er ihr jetzt angst. Er bat darum, eine Nacht in dem leeren Zimmer verbringen zu dürfen, aus dem man am häufigsten nächtliche Laute hörte. Am Morgen darauf war er blaß und still, und senkrecht über seine Stirn zog sich die erste Falte.
Kunth entschied, daß der ältere Bruder die Rechte und der jüngere Kameralistik studieten solle. Natürlich reiste er mit ihnen zur Universität nach Frankfurt an der Oder, begleitete sie in die Vorlesungen und überwachte ihre Fortschritte. Es war keine gute Hochschule. Wenn einer nichts könne und Doktor werden wolle, schrieb der Ältere an Henriette, solle er getrost kommen. Auch sei aus Gründen, die keiner kenne, meist ein großer Hund im Kollegium, kratze sich viel und mache Geräusche.
Beim Botaniker Wildenow sah der Jüngere zum erstenmal getrocknete Tropenpflanzen. Sie hatten fühlerartige Auswüchse, Knospen wie Augen und Blätter, deren Oberfläche sich anfühlte wie menschliche Haut. Aus Träumen kamen sie ihm vertraut vor. Er zerschnitt sie, machte sorgfältige Skizzen, prüfte ihre Reaktion auf Säuren und Basen und verarbeitete sie säuberlich zu Präparaten.
Er wisse nun, sagte er zu Kunth, womit er sich befassen wolle. Mit dem Leben.
Das könne er nicht billigen, sagte Kunth. Man habe auf der Welt andere Aufgaben, als einfach nur dazusein. Leben allein, das
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