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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
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statt zu sitzen.
    Custos hüpfte von der Ladefläche und verschwand im Gebüsch. Ich war noch nicht wirklich dahintergekommen, ob sie mehr Hund oder mehr Wolf war. Allerdings hatte ich da so eine Vermutung.
    Tens entfaltete seine schlaksige Gestalt, umrundete die Motorhaube und blieb abwartend stehen wie ein Mitglied der königlichen Garde. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck: geduldig, ruhig und bedächtig.
    Ich schloss die Augen, als ich spürte, wie Zorn auf ihn in mir aufstieg. »Ich habe so ein Gefühl, was diesen Ort angeht.« Mir war klar, dass das stimmte, sobald ich die Worte ausgesprochen hatte.
    Tens ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen, speicherte jede Einzelheit und schätzte blitzschnell ein, ob uns hier Gefahr drohte. »Ein gutes oder ein schlechtes?«
    Ich schnaubte entnervt und rieb mir mit den Handflächen über die Schenkel. An unserem dritten Tag unterwegs hatte sich der Zeitungsartikel wie durch Zauberhand aufgelöst. Die Druckerschwärze war verschwunden. Nun hatten wir nur noch ein leeres Blatt und mussten uns auf unser Gedächtnis verlassen. Jeden Moment rechnete ich mit einem neuen Zeichen. Aber der Hinweis ließ weiter auf sich warten. So ging ein Tag in den anderen über, und die Erfolglosigkeit zerrte an meinen Nerven.
    Wo war sie? Wo steckte das geheimnisvolle Mädchen, das wie ich von den Aternocti gejagt und vom Guten gebraucht wurde? Von allem, was hell, klar und rein war. Was dachte sie? Wünschte sie sich, jemand möge vom Himmel fallen und ihr erklären, dass sie nicht verrückt war? Oder kannte sie ihre Bestimmung und hatte Vertrauen in sich selbst?
    »Meridian? Ein gutes oder ein schlechtes Gefühl?« Tens kam auf mich zu, hielt aber Sicherheitsabstand. Ich biss zwar nicht, war in letzter Zeit jedoch so launisch, dass ich seine Vorsicht verstand.
    »Ich bin noch nicht sicher.« Ich wandte mich ab und versuchte, das Bauchgefühl zu deuten, das mich belastete. »Warum nimmst du es nicht auch wahr? Warum spürst du sie nicht? Was nützt uns deine Gabe, wenn wir uns nicht darauf verlassen können? Was, wenn wir sie nicht finden? Sollen wir alle Straßen in diesem Bundesstaat abfahren und anschließend im nächsten und im übernächsten? Und was dann? Kanada? Mexiko? Sollten wir wirklich den Rest unseres Lebens in der Weltgeschichte herumgondeln, uns von Hamburgern ernähren und in abgewrackten Motels übernachten?«
    Dank meiner Tante Merry hatten wir zwar genug Geld, doch ich sah mit meinen sechzehn Jahren noch immer aus, als wäre ich kaum in der Pubertät, während Tens einschüchternd wirkte, so dass man ihn leicht für einen zwielichtigen Zeitgenossen halten konnte. Alles in allem keine gute Kombination, wenn man nicht auffallen wollte.
    »Du bist müde.« Er sagte das, als ob es alles erklären würde – einschließlich meiner Reizbarkeit.
    »Tu nicht so gönnerhaft!«, fauchte ich ihn an. Natürlich war ich müde. Schließlich verbrachten wir bis auf kurze Pausen von wenigen Stunden die ganze Zeit im Auto und hatten jede Seniorenresidenz und jedes Pflegeheim von Indianas südlicher Grenze bis zur Mitte des Bundesstaates abgeklappert. Jetzt waren wir im Großraum Indianapolis angekommen, obwohl es hier noch sehr ländlich war. Ich ging im Kreis herum und trat nach den Autoreifen.
    Ich sehnte mich nach ein wenig Ruhe und einer Pause für meine Seele. Die grobe Richtung war nicht genug für diese Mission. Ich brauchte ein klares Ziel. Welchen Sinn hatte es denn, uns einfach ins Blaue hinein zu schicken? Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, ich hätte mit den Schöpfern sprechen können, denen, die die Regeln bestimmten. Eine Fenestra sollte nicht allein handeln müssen, während die Aternocti weit in der Überzahl waren, einander und ihre Anführer hatten und außerdem über einen eindeutigen Auftrag verfügten, nämlich zu zerstören und Leid zu bringen. Und ich und mein Team? Uns blieben nur unsere Reisen, die Unterrichtsstunden und die Möglichkeit, die Augen offen zu halten. Hipp, hipp, hurra für die Guten.
    Mit einem Seufzer stützte Tens sich auf die Motorhaube. »Meinetwegen, dann bist du also nicht müde. Du kannst klar denken und heulst nicht wie ein Kleinkind, das keinen Lutscher bekommen hat. Und trotzig bist du auch nicht.« Er stützte den Kopf in die Hände, stöhnte und richtete sich auf.
    Mir blieb der Mund offen stehen, und ich musste mir eine patzige Antwort verkneifen. Er hatte recht. Er hatte immer recht. »Mann, das war hart.«
    »Ja, tut mir
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