Mercy, Band 2: Erweckt
in beide Richtungen. Dieser Laden ist praktisch mein Außenbüro.“ Er dreht sich um und schaut in Cecilias Richtung.
Sie nickt geschmeichelt. „Zwei doppelte Espressi, keine Milch, kein Zucker. Genau eine Stunde nacheinander serviert. Der erste um Viertel vor elf, der zweite um Viertel vor zwölf.“
„Siehst du?“ Der Typ lächelt, obwohl ich einen gekränkten Unterton in seiner Stimme heraushöre. „Ich bin so ’ne Art Hardcore-Stammkunde.“
Ja, und hart an der Grenze zum Zwangsneurotiker , denke ich. Aber ich bleibe bei meinem höflich unverbindlichen Lächeln.
„Ich war sogar da, als du hier angefangen hast“, fügt er hinzu. „An dem Morgen ging alles schief, und dann kamst du. Du hast mir Kaffee und ein Himbeertörtchen serviert, leicht angewärmt, keine Sahne. Ich hab dich seither mindestens fünfmal zum Essen eingeladen, und du hast immer Nein gesagt oder so getan, als hättest du mich nicht gehört. Auf eine sehr nette Art natürlich.“
Ich spüre, wie mir das Lächeln im Gesicht gefriert. Warum müssen mir auch gleich zwei Stammgäste über den Weg laufen, die sich über Lelas seltsames Verhalten wundern? Zum Glück lüge ich wie ein Profi.
„Ich hatte ’ne Menge Stress in letzter Zeit“, sage ich unbestimmt. „Wegen Mum und so, du weißt schon. Konnte nicht schlafen, war ganz krank vor Sorge. Das hat mich irgendwie s o … vergesslich gemacht. Und mir war auch nicht wirklich nach Ausgehen und so.“
Ranald nickt. „Das hat Dimitri auch gesagt. Ich hab ihn gefragt, warum du immer so abwesend bist. Und so beschäftigt.“
Ich wechsle schnell das Thema und frage: „Woran arbeitest du da eigentlich?“
Wieder dieses Flackern in seinen Augen, und ich weiß, dass er mich durchschaut. Dumm ist er nicht, das ist offensichtlich.
Ich trete hinter ihn, sodass ich auf seinen Bildschirm sehen kann. Ich möchte wissen, was ein Laptop alles kann. Ich bin kein Relikt aus grauer Vorzei t – ich weiß, dass Computer heutzutage praktisch die Welt beherrsche n –, aber zum ersten Mal habe ich einen direkt vor der Nase. Leider schließt Ranald sofort das Fenster, in dem er gerade gearbeitet hat. Ein nichtssagender Bildschirm taucht stattdessen auf und der Cursor blinkt sanft in einem leeren Feld.
„Tut mir leid“, sagt er, „das ist topsecret. Ich müsste dich sonst umbringen.“ Er lacht kurz, um mir zu signalisieren, dass er einen Witz gemacht hat.
Seine Hände sind fast wie Frauenhände. Die Fingernägel bis aufs Nagelbett abgekaut und völlig ausgefranst. Er muss eine hohe Schmerzschwelle haben.
„Du könntest sowieso nichts damit anfangen“, fügt er hinzu. „Aber wenn du ’ne Info brauchst oder irgendwo reingehen wills t …“, er deutet einladend auf seinen Bildschirm, „dann bin ich dein Mann.“
Ich antworte nicht und er dreht sich in einer schnellen Bewegung zu mir herum. Ich stehe dicht hinter ihm, direkt an seiner linken Schulter.
„Dein Andy hat dich nur ausgenutzt. Der war nichts für dich. Das hab ich gleich gemerkt, schon an der Art, wie du über ihn geredet hast. Du verdienst was Besseres, Lela. Einen, der auf dich aufpasst. Besonders jetzt.“
„Ach ja?“, sage ich mit leichtem Stirnrunzeln. „Na ja, danke, nett von dir, dass du das sagst.“
Stand Lela diesem Typ nahe? Wie soll ich das wissen? Ich habe ihr Tagebuch von vorne bis hinten durchgeblättert, aber dort ist nur von Andy die Rede. Ranald taucht nirgends auf. Also was soll ich jetzt tun? Eine beginnende Romanze im Keim ersticken oder ihn ermutigen? Was würde Lela wollen?
Lela? , rufe ich in ihrem Kopf.
Keine Antwort. Nicht das leiseste Muskelzucken. Ich nehme es als Hinweis.
„Du wirkst heute irgendwie viel fröhlicher“, fügt Ranald hinzu und studiert meine Gesichtszüge. „Nicht mehr s o … verbittert. Und hübsch siehst du aus.“
Verlegen senkt er den Blick, die Finger mit den abgekauten Nägeln liegen auf der Tastatur.
„Na ja, vielleicht weil ich mich mit meiner Situation abgefunden habe“, erwidere ich. „Hab mir vorgenommen, das Beste draus zu machen.“
Ich füttere ihn mit diesen abgedroschenen Binsenweisheiten, aber er gibt sich damit zufrieden.
„Gute Idee“, sagt er und prahlt dann: „Na los, stell mich auf die Probe. Du kannst mich alles fragen, was du schon immer wissen wolltest. Ich finde die Antwort, das garantiere ich dir. Ich finde alles. Vor mir ist nichts sicher.“
„Carmen Zappacosta“, sage ich sofort und bin genauso verblüfft wie er. „Ich will alles
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