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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne
Autoren: Arnaldur Indridason
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von der Seele gebrüllt, hatte sich die verschlissene Schirmmütze vom Kopf gerissen und auf den Boden geschleudert. Jetzt war sie wieder auf seinem Kopf, und er saß mit einem Becher Kaffee in der Hand in der kleinen Essecke und beobachtete Pálmi, der die Treppe zu seiner Wohnung herunterkam. Er hatte die Nachrichten vom Aufruhr in der Klinik und von Daníels Tod gehört und damit gerechnet, dass Pálmi früher oder später bei ihm auftauchen würde.
    »Komm herein, Pálmi«, sagte er, während er die Tür öffnete. »Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie schrecklich Leid mir das tut, was mit deinem Bruder passiert ist.«
    »Danke, Jóhann«, sagte Pálmi und betrat die Wohnung. Sie gingen in die Küche, und Jóhann goss Kaffee in eine zweite Tasse. In dem sauberen Raum war alles ordentlich an seinem Platz, Fußboden und Schränke glänzten. Jóhann hatte sein ganzes Leben lang allein gelebt und war als ordnungsliebender Mensch bekannt. Pálmi hatte sich vom ersten Augenblick an, als Jóhann seinen Bruder in der Klinik unter seine Fittiche genommen hatte, gut mit ihm verstanden. Jóhann war groß und kräftig und hatte Hände, die zupacken konnten, aber seine Stimme war weich und freundlich, und er strahlte Vertrauen aus. Sogar sein Gang wirkte Vertrauen erweckend. Er humpelte zwar ein wenig, denn das eine Bein war sichtlich kürzer als das andere, aber er trat trotzdem fest und sicher auf.
    »Ich kann mich erinnern, wie ich Danni in der Klinik kennen gelernt habe. Damals glaubte er, er würde nicht lange drinnen bleiben«, sagte Jóhann und setzte sich zu Pálmi. »Und man hat gehofft, dass er Recht behalten würde. Aber dann musste er natürlich doch den größten Teil seines Lebens dort verbringen. Was für ein Leben«, fügte er leise hinzu.
    »Ich wollte dir danken für all das, was du in diesen Jahren für ihn getan hast, und dafür, dass du ihm ein Freund gewesen bist«, sagte Pálmi und nippte an dem kochend heißen Kaffee.
    »Es ist wohl eher angebracht, dass ich mich bedanke. Wahrscheinlich habe ich mehr von dieser Freundschaft profitiert als Danni. Ich mochte ihn sehr, sehr gern. Und jetzt muss ich immer daran denken, dass ich ihm, wenn ich nicht die Schnauze so voll gehabt hätte von dieser Klinik, vielleicht in seinen letzten Tagen hätte helfen können. Ich wollte mich auch von ihm verabschieden, das hatte ich die ganze Zeit vor, aber ich bin vor Wut einfach aus dem Gebäude gerannt und nicht wiedergekommen.«
    »Warum bist du gegangen?«
    »Das, was in der Klinik vorgeht, ist im Grunde genommen ein Riesenskandal, und das schon seit Jahren. Ich bin deswegen oft bei der Leitung vorstellig geworden, aber die einzige Antwort, die ich dann immer bekommen habe, war die, dass wir in einer Rezession steckten und die öffentliche Hand Einsparungen vornehmen müsse. Ich habe erklärt, dass ich in all den Jahren, die ich dort gearbeitet habe, schon öfter erlebt habe, dass die Mittel knapper wurden. Aber so schlimm wie jetzt ist es noch nie gewesen. Außer den Aufsehern gibt es da doch kaum noch jemanden, der sich um die Patienten kümmert. Und von denen ist niemand für so etwas ausgebildet. Meiner Meinung nach haben diese hohen Herren einen an der Klatsche, und das habe ich dem Direktor und allen anderen da auf der Verwaltungsetage so direkt gesagt, ob sie es hören wollten oder nicht.«
    »Genützt hat es aber wohl nichts.«
    »Ich hatte echt die Schnauze voll, Pálmi. Ich konnte da einfach nicht länger bleiben.«
    »Wann hast du Daníel das letzte Mal gesehen?«
    »An dem Tag, als ich abgehauen bin, genau vor einer Woche. Ich hatte kurz davor noch mit ihm in seinem Zimmer gesprochen.«
    »War er in den letzten Wochen, in denen du mit ihm zu tun hattest, irgendwie anders?«
    »Das lässt sich nicht abstreiten. Eigentlich war er mal wieder genau wie immer, wenn er seine Medikamente nicht einnahm. Das hat er manchmal gemacht. Dann war er ja irgendwie ruhiger, obwohl sich das komisch anhört, und er konnte sich stundenlang ganz normal und verständig mit einem unterhalten. Ich bin übrigens der Meinung, dass ihm die Medikamente überhaupt nichts genützt haben. Ich glaube nicht an Medikamente. Mir war es scheißegal, wenn er das Zeug nicht nehmen wollte. Dann wird den Pharmakapitalisten weniger Geld in den Rachen geworfen. Kann natürlich sein, dass diese Medikamente auch was genützt haben. Ich weiß es nicht. Es ist aber entsetzlich, wenn man mit ansehen muss, was für Mengen davon ausgeteilt werden, und das
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