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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte
Autoren: Helmut Schmidt
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das vorrangige Staatsziel. Durch das sowjetische militärische Drohpotential und den dahinterstehenden, in Europa jederzeit spürbaren Expansionismus scheint diese Ordnung gefährdet zu sein.
    Ähnlich bedroht fühlen sich andere demokratisch verfaßte Staaten West-, Nord- und Südeuropas. Die meisten von ihnen liegen zwar in größerer Entfernung von der Trennlinie zwischen Ost und West, dafür aber haben einige westliche Länder stärkere, mit Moskau kooperierende kommunistische Minderheitsparteien im eigenen Hause. Das Bewußtsein der latenten Bedrohung hat die westeuropäischen Staaten in den Nordatlantikpakt gedrängt; es hat zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geführt und den freien Teil Europas militärisch, politisch und ökonomisch immer fester zusammengebunden – wobei man nicht aus dem Auge verlieren
sollte, daß auch die neutralen Staaten Schweden, Finnland, Österreich und Jugoslawien ihre Freiheit indirekt auf die gemeinsame Selbstbehauptungskraft der in der EG und im Nordatlantikpakt zusammengeschlossenen Staaten stützen. Für Westeuropa also sind angesichts der von der Sowjetunion ausgehenden Bedrohung die Bewahrung seiner Freiheit und die Erhaltung seines Friedens die wichtigsten Ziele.
    Die Bundesrepublik ist – anders als Italien, Frankreich, England, Holland oder Dänemark – kein Nationalstaat, sondern der Staat nur eines Teiles der Nation. Daraus resultiert der in der deutschen Nation besonders stark ausgeprägte Wille zu einem Modus vivendi mit der Sowjetunion, um wenigstens die Lebensumstände der östlich der Trennlinie lebenden Menschen so erträglich wie möglich zu gestalten. Zwar gibt es auch anderswo in Westeuropa den dringenden Wunsch nach besseren Lebensumständen für die Osteuropäer, nach größerer persönlicher, kultureller und politischer Freiheit für die Polen, die Ungarn, die Tschechen – das Bewußtsein der geschichtlichen und kulturellen Einheit des gesamten Europas ist in den Gefühlen und Gedanken der Menschen tief verankert; politisch am stärksten prononciert wurde es durch Charles de Gaulle. Aber natürlich sind die verwandtschaftlichen, freundschaftlichen, heimatlichen, geschichtlichen, kurz die soziokulturellen Bindungen zwischen den deutschen Landsleuten auf beiden Seiten der Trennlinie unvergleichlich stärker ausgeprägt als zum Beispiel die Bindungen zwischen Franzosen und Ungarn oder zwischen Italienern und Polen.
    Das Gebiet der Bundesrepublik bildet geostrategisch einen Riegel, der von der Ostsee bis zu den Alpen den sehr schmalen, durch Zentraleuropa führenden Landweg einer möglichen sowjetrussischen Expansion in Richtung Westeuropa versperrt. Seit Beginn der Völkerwanderung mußte dieses kleine, geographisch so beengte Zentraleuropa immer wieder als Schlachtfeld für fremde Eroberer herhalten.
    Das heutige militärische Gegenüber der beiden Militärpakte macht das Territorium der Bundesrepublik für den Westen unverzichtbar. Der Verlust dieses Territoriums oder auch nur sein Ausscheiden
aus dem nur gemeinsam zu verteidigenden kontinentaleuropäischen NATO-Gebiet wäre unersetzlich; hinzu kommt, daß damit zugleich eine sehr weitgehende Isolierung Skandinaviens und Südeuropas verbunden wäre.
    Die NATO konnte das schmerzhafte Ausscheren Frankreichs aus dem militärischen Verbund am Ende ertragen; sie könnte ein eventuelles Ausscheiden auch eines der kleineren Bündnispartner ohne existentielle Gefährdung ihrer Verteidigungsfähigkeit überstehen; ein Austritt der Bundesrepublik dagegen käme einer Katastrophe gleich. Er könnte nur durch einen sehr weitgehenden Rückzug der Sowjets ausgeglichen werden; aber dafür gibt es gegenwärtig – anders als es vor dreißig Jahren, zur Zeit der Rapacki-Pläne, erscheinen konnte – überhaupt keine Anhaltspunkte. Ein solcher Rückzug der Sowjetunion würde bedeuten, daß Moskau seine machtpolitische Klammer um die DDR, Polen und die ČSSR aufgäbe.
    Aus alledem folgt: Die Bundesrepublik darf im Interesse des strategischen Gleichgewichts in Europa und damit der Verteidigungsfähigkeit des Westens ihre derzeitigen Bindungen an den Westen auch dann nicht aufgeben oder lockern, wenn sie Zugeständnisse der Sowjetunion anstrebt. Bei jedem Versuch dieser Art würde sie tiefen Argwohn und politische Reaktionen ihrer westlichen Verbündeten hervorrufen, auf der anderen Seite aber Polen, Tschechen, Ungarn, Schweden, Finnen, Österreicher und den ostdeutschen Teil der eigenen Nation beunruhigen, weil eine
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