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Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Titel: Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Autoren: Julianna Baggott
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Einladung? Sie weiß, dass man hier keine Einladungen bekommt.
    Sie schiebt einen Finger unter die Klappe an der Rückseite und pult sie auf.
    Ein zerrissenes, gefaltetes Blatt Papier mit Worten in blauer Tinte kommt zum Vorschein. Es ist abgenutzt, zerfressen von Löchern.
    Sie zieht das Blatt heraus und entfaltet es.
    Eine kleine Papierschneeflocke. Lydas Herz trommelt in der Brust.
    Geisterhafte, rückwärts geschriebene Buchstaben scheinen von der anderen Seite her durch. Sie dreht den Zettel um. Worte schweben auf dem Papier.
    Lyda. Ihr eigener Name. Ein paar Zahlen – ist es eine Liste? Die Worte Eiskapseln und Erinnerungen .
    Eine Schneeflocke. Dafür kann es nur eine Erklärung geben.
    Sie blickt in den Einwegspiegel. Ist er hier? Hat er sie gesehen?
    Die Schneeflocke ist ein Geschenk – das Geschenk, das sie sich im U-Bahn-Waggon von ihm gewünscht hat. Er hat sie auf die Lippen geküsst, ganz sanft. Sie erinnert sich an den Kuss, legt die Fingerspitzen auf den Mund. Er ist bei ihr. Er weiß, wo sie ist. Sie gehören noch immer zusammen.
    Die Papierschneeflocke zittert in ihrer Hand, rutscht ihr aus den Fingern und schaukelt durch die Luft, hin und her, bis sie auf dem Boden aufsetzt.

PRESSIA
Flügel
    Es ist still. Bradwell liegt auf dem Boden. Sein Oberkörper ist nackt, sein Brustkorb – der nun größer und schwerer wirkt – hebt und senkt sich schnell. Ansonsten rührt er sich nicht. Pressia hat lange über ihn gewacht. Jetzt krabbelt sie zu ihm. Der Wind zerzaust sein Haar und seine Flügel. Ein Flügel hat sich um seine Schultern gelegt wie ein schützendes Federgewölbe. Durch die Mitte seiner Brust, von oben nach unten, verläuft eine Narbe. Als Pressia sie berührt, zuckt er zusammen, ohne die Augen zu öffnen.
    El Capitán sitzt an einem Baum, den Rücken seines Bruders an den Stamm gelehnt, die Fäuste im Boden vergraben. Vielleicht liebt er sie wirklich. Bis vor Kurzem sind Bradwell, El Capitán und Helmud langsam gestorben, aneinandergefesselt durch Efeuranken. Pressia sagt sich, dass es besser ist, wie es nun ist. Es muss besser sein.
    Fignans Räder zerfurchen die Erde. Aber wohin soll er fahren? Das Pferd wiehert und schüttelt die Mähne, die lang über seinen kräftigen Nacken fällt. Ein riesiges Tier mit einem riesigen Herz. Pressia hat den anderen nicht erzählt, woher sie das Pferd hat, dass sie am heiligen Hügelgrab Menschen getroffen hat. Kelly ist ganz in der Nähe. Er ist am Leben. Sie sind nicht allein. Und trotzdem fühlt sie sich, als wären sie völlig allein auf der Welt. Isoliert.
    Ihr Herzschlag pocht in ihren Ohren, ihr stolpernder, ungestümer Herzschlag – er klingt wie damals, unter Wasser, als sie beinahe ertrunken ist: ein tiefes Dröhnen, ein Bass, der die restliche Welt fast vollständig verstummen lässt. Sie hat einem Menschen, den sie liebt, ihr Wort gegeben. Und sie hat es gebrochen.
    Sie liebt Bradwell.
    Sie weiß es. Es ist die Wahrheit. Es ist keine Schwäche, es ist nichts, wozu es besonderen Mut bräuchte. Ihre Liebe zu Bradwell ist einfach. Auf dem Waldboden, unter der Eisdecke, sind sie nicht gestorben, und hier, allein, konnte sie ihn nicht sterben lassen. Ist ihre Liebe deshalb egoistisch? Wenn ja, bekennt sie sich schuldig. Aber sie kann sich nicht dafür entschuldigen, ihn gerettet zu haben, ihn in ein geflügeltes Wesen mit drei gigantischen Vögeln im Rücken verwandelt zu haben.
    Pressia beugt sich über Bradwell, die letzte Ampulle fest in der Hand, die Formel tief in der Tasche, und flüstert: »Du bist immer noch rein. Nur das Innere zählt. Das hast du mir selbst beigebracht.«
    Sie hat ihn gerettet – ob er wollte oder nicht. Es hat schon zu viel Tod gegeben.
    Bradwell lebt. Sedge nicht. Pressias Großvater nicht. Pressias Mutter nicht. Was hätte ihre Mutter jetzt gesagt? Ihre Mutter war ein Rätsel. Was hätte ihr Großvater gesagt? Nichts. Er hätte sie nur festgehalten, wie immer, auch am Anfang, als sie ihm noch fremd war – ein kleines, verirrtes Mädchen, das nicht mal Englisch sprach. Itchy knee. Sun, she go.
    Pressia denkt an Partridge. Wo ist er? Hat er es wirklich für möglich gehalten, dass sie es so weit schafft? Wird sie es auch zurück nach Hause schaffen?
    Sie weiß nicht warum, aber sie ist sich sicher, dass sie zurückkehren wird. Irgendetwas ruft nach ihr.
    Vielleicht sind es Wilda und die anderen Kinder wie sie. Vielleicht kann Pressia sie noch retten.
    Sie glaubt nicht mehr, dass es nur diese eine Welt gibt.
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