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Meister und Margarita

Meister und Margarita

Titel: Meister und Margarita
Autoren: Michail Bulgakow
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anekdotischen Argument, er zieht die direkte Beweisführung vor, indem er dem gottlosen Redakteur seinen so nahen wie unangenehmen Tod voraussagt (»Ihnen wirdder Kopf abgeschnitten!«), der wenige Seiten später auch prompt eintritt und den armen Dichter und Zeugen Besdomny (zu Deutsch: der ohne Haus) in jenen wilden Wahnsinn treibt, der ihn erst als Teufelsjäger durch Moskau hetzt und schließlich, wohin sonst, ins Irrenhaus bringt, wo er, vorübergehend zur Ruhe gespritzt, eines Tages überraschend Besuch bekommt: Auf seinem Balkon erscheint jener Mitpatient, der sich wenig später als jener Meister entpuppt, der jenes Buch über Pontius Pilatus und Jeschua schrieb, aus dem uns der Teufel eben noch in der Dämmerung auf der Bank das erste Kapitel vortrug.
    Womit wir mitten im »Pilatentum« wären, bei jenen Jan zufolge so seltsam in die Handlung eingeschobenen Zwischenkapiteln, die bereits beim zweiten Lesen längst keine Zwischenkapitel mehr sind, sondern womöglich die Haupthandlung, oder, treffender, der Kern der hier verhandelten Sache, um den sich die Moskauer Teufeliade wie eine schillernde Schale legt, die, weil sie so schillernd verwirrt, für den Leser nicht leicht zu knacken ist. Hat er sie aber einmal geknackt, bemerkt er sofort die leise Verschiebung – er betritt einen anderen Raum, eine neue Landschaft, in der ein neuer Ton und andere Bilder herrschen, als habe man im Orchestergraben hier und da Instrumente vertauscht und auf der Bühne die Kulissen verschoben. Wir sind nicht mehr in Moskau, sondern in Jerusalem. Es herrscht ein anderes Licht, ein anderes Klima, eine Mischung aus Schweiß und Rosenöl, drückendes schwüles Kopfschmerzwetter. Kein Varieté, kein Kater, kein Hofnarr weit und breit, niemand, der Köpfe auf- oder abschraubt, niemand, der jetzt noch wagen würde, seinen Spaß mit der Macht zu treiben.
    Auf den ersten Blick eine fremde Landschaft, bedrohlich, auch für den Statthalter selbst, für jenen Pontius Pilatus, der als Abgesandter einer fernen Macht auch nur zum Schein über Schicksale verfügt, in Wahrheit aber nichts als ein Opfer seiner römischen Migräne ist. »Vielleicht muss man selber Migräniker sein«, sagt die Dichterin Ilma Rakusa, »um zu begreifen, dass es nicht Woland, nicht Behemoth, weder der Meister noch Margarita sind, sondern dass es Pilatus ist, der am Ende Bulgakows ›Meister‹ zu Literatur macht.« Jener Mann, der nichts anderes als mit seinem Kopfschmerz und seinem Hund allein sein möchte, der seinen Posten in Jerusalem hasst und beim besten Willen nicht weiß, was er mit jenem anderen Mann, einem gewissen Jeschua Ha-Nozri, anfangen soll, der ihm gleichfalls Kopfschmerzen bereitet, weil er, auch gefoltert und mit gebundenen Händen, Pilatus immernoch für einen guten Menschen hält. Der Statthalter belehrt ihn eines Besseren, indem er sich an Centurio Rattenschreck wendet: »Der Delinquent nennt mich einen guten Menschen. Führt ihn für einen Moment hinaus und bringt ihm bei, wie man mich anzusprechen hat. Aber alles noch dran lassen.« (S. 27)
    Nachdem der Gefangene solcherart darüber belehrt ist, wie man mit einem Statthalter spricht (»nur mit ›Hegemon‹ anreden«), entspinnt sich zwischen Verhörer und Verhörtem ein denkwürdiges Gespräch über die Wahrheit: »Was ist denn Wahrheit? – […] – Die Wahrheit ist zunächst einmal, dass du Kopfschmerzen hast. So starke Kopfschmerzen, dass du kleinmütig sterben willst. Es zehrt an deinen Kräften, mich anzusehen, geschweige denn, mit mir zu sprechen. So werde ich, ohne es zu wollen, zu deinem Henker, was mich sehr traurig macht. Du bist nicht einmal mehr fähig, an irgendetwas zu denken, und träumst nur von deinem Hund, dem offenbar einzigen Wesen, an dem du noch hängst. […] Ein Spaziergang täte dir wirklich gut, und ich würde dich gern begleiten. […] du bist viel zu verschlossen und hast den Glauben an die Menschen ganz eingebüßt. All seine Zuneigung einem Hund zu schenken, nicht wahr, wohin soll das führen? Nein, Hegemon, dein Leben ist mehr als dürftig.« (S. 33)
    Woher nimmt dieser Jeschua sich das Recht, so zu einem zu sprechen, der sein Leben in der Hand hält und nur wenig später jenes Todesurteil gegenzeichnet, das Ha-Nozri noch am selben Tag an seinen qualvollen Galgen bringt? Und woher weiß er, was sonst nur ein Woland weiß? Wessen Stimme spricht hier zu uns, die eines Teufels oder die eines Gottes? Keine von beiden. Ein Teufel zöge sich weit eleganter aus der
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