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Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde

Titel: Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
Autoren: Suzanne Crowley Knut Krueger
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irgendjemandem aus unserer Familie Rücksprache zu halten. Das geschah vor dreizehneinhalb Jahren. Es hätte schlimmer kommen können. Grandma Birdy ist davon überzeugt, dass Mama »Mercy!« ausgerufen hat, was so viel wie Mitleid oder Erbarmen heißt und mir quasi einen religiösen Namen beschert hätte. Da bin ich doch froh, dass mir das erspart blieb, denn Gott weiß, dass ich nicht an ihn glaube.
    Einen zweiten Vornamen habe ich nicht. Die Krankenpflegerin dachte vermutlich, Merilee sei vollkommen ausreichend, und stellte keine weiteren Fragen. Vielleicht ist Mama danach auch in Ohnmacht gefallen. Die ganze Geschichte wird ein bisschen durch die Erinnerung getrübt, wie so viele alte Familiengeschichten.
    Als meine kleine Schwester auf der Bildfläche erschien, wollte Mama - visionär und rebellisch, wie sie nun mal ist - die Tradition der albernen Namen fortsetzen, die sie dreieinhalb Jahre zuvor im Delirium begonnen hatte. Mama hat einen außergewöhnlichen Sinn für Humor. Alles an ihr ist außergewöhnlich, zumindest in einem Kaff wie Jumbo. Sie wollte meine Schwester Bitsy nennen, nach dem bekannten Kinderlied »Itsy Bitsy Spider«, doch mein Vater warf seiner neuen Tochter einen liebenden (und wohl sehr kurzen) Blick zu und verlieh ihr den Spitznamen Bug, was so viel wie Käfer heißt, angeblich »weil sie so süß wie ein kleiner Käfer« war. Und so wie ein Dominostein den nächsten in Bewegung setzt,
brachte das Daddy auf die Idee, mich »Hug« zu nennen, was »Umarmung« bedeutet. Wahrscheinlich wollte er nur gerecht sein. So ist er eben.
    Doch Hug ist noch viel unpassender als der Spitzname meiner Schwester, weil ich es überhaupt nicht mag, andere zu berühren oder von ihnen berührt zu werden. Wenn ich mit anderen in Berührung komme, habe ich das Gefühl, mit tausend giftigen Nadeln gestochen zu werden. Dann sind all meine Sinne in Aufruhr und reagieren so empfindlich, dass ich auf eine Meile Entfernung einen Frosch rülpsen höre.
    Eigentlich hab ich nichts gegen Spitznamen. Das Verleihen von Spitznamen ist in Jumbo ein beliebter Zeitvertreib. Jeder hier hat mindestens zwei davon, sogar die streunenden Hunde. Es sei denn, man ist ein Außenseiter, so wie Mama. Ich finde nur, dass Spitznamen auch passen sollen, das ist alles.
    Allerdings hat meine Schwester einen zweiten Vornamen bekommen. Meine Mutter wollte diesmal eine natürliche Geburt erleben und war ohne Betäubungsmittel geistesgegenwärtig genug, um meiner Schwester den Namen Bitsy Ruth Monroe zu geben - nach meiner geliebten Großmutter Ruth, die in New York lebte. Bevor sie starb. Ich finde, damit ist Bug wieder einmal diejenige, die zuletzt lacht, denn Grandma Ruth war die einzige Person auf der ganzen Welt, die mich je verstanden hat.

    Ihr könnt mir glauben, dass ich alles andere als begeistert war, als Bug meinen Zeitplan durcheinanderbrachte, weil sie mir unbedingt von dem neuen Jungen erzählen wollte. Ich hatte schon zehn Minuten verloren. Ganze zehn Minuten. Ich hätte meinen gesamten Papier- und Plastikmüll schon längst zum
Wertstoffhof an der Oak Avenue bringen sollen. SGD. Sehr geregeltes Dasein.
    Doch nun saß ich vor dem Haus von Myrtle Dean auf meinem Fahrrad - dort, wo die Fifth und die Elm Street aufeinandertreffen - und starrte ausdruckslos auf meine Uhr, als hätte ich nichts Besseres zu tun. Plötzlich bog Myrtle mit quietschenden Reifen um die Kurve. Sie saß in ihrem betagten gelben Cadillac, den sie Mabel nennt, und fuhr halb auf der Straße, halb auf dem Grasstreifen. Sie ist so blind wie ein alter Maulwurf, weigert sich aber, eine Brille zu tragen.
    »Was ist das?«, fragte eine helle, quietschende Stimme. Ich wusste, dass sie dem neuen Jungen gehörte, noch ehe ich den Kopf drehte. Und ich hatte recht. Er war wirklich ziemlich klein für sein Alter - ich hätte ihn auf fünf oder sechs geschätzt -, und irgendwas in seinem Gesicht schien nicht richtig zusammenzupassen, als wären seine Gene ein bisschen zu lange durcheinandergewürfelt worden. Er hatte einen dunklen Teint und struppige schwarze Haare. Seine Stirn über den kleinen braunen Augen war so flach wie ein Brett. Seine Ohren sahen aus, als hätte sie jemand ein paar Zentimeter nach unten gezogen. Der Rotz lief ihm in zwei grünen Streifen aus der Nase.
    Als ich noch klein war, hatte ich die schlechte Angewohnheit, unhöfliche Fragen zu stellen. Ich war nicht in der Lage, fremden Gesichtern anzusehen, ob sie zornig, irritiert oder verwundert waren.
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