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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Autoren: Vlada Urosevic
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ihr näherte, um seinen Kopf in ihren Schoß zu legen, sprangen Nestor, Najden und Pavle Kondratenko aus den Büschen hervor, schwenkten ihre Eisenstangen und wurden schnell mit ihm fertig. Der kleine, hinkende Miroslav folgte mit Verzögerung und konnte nur noch mit dem Ast auf das bereits tote Einhorn einschlagen.
    Emilia gehorchte ihren Befehlen. Sie ging, wohin sie sollte, blieb auf ihre Aufforderung hin stehen, führte ihre Weisungen aus. Sie bewegte sich langsam, wie im Traum, trieb mit ihrem weißen Kleid über die silbernen Lichtungen mit dem Löwenzahn und betrachtete die getöteten Tiere zu ihren Füßen mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen.
    Wir gingen langsam am Zaun des Zoologischen Gartens entlang. An den Kanälen mit abgestandenem, unbewegtem Wasser wuchs das höllische Spitzengewebe der Brennnesseln, breiteten sich Holunderbüsche aus und benahmen einem mit ihrem Geruch den Atem, wucherte namenloses, finsteres Unkraut. Auf der anderen Seite des Zauns kreischten exotische Vögel erschrocken in ihren Käfigen auf. Löwen, die den Blutgeruch witterten, brüllten; einmal ließ sich in der Finsternis ein Panther mit wildem Aufschrei vernehmen. In der Luft verbreitete sich der scharfe Gestank der eingesperrten Raubtiere. In dem kleinen Steinhäuschen, das als eine Art Lesekiosk gebaut worden war und später vergessen und vernachlässigt wurde, brannte Licht. Die Tür stand halb offen.
    »Meine Schuhe drücken«, sagte meine Cousine Emilia plötzlich. Niemand antwortete. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen.
    »Meine Schuhe drücken«, wiederholte sie. Alle verharrten abwartend. Der Raubtiergestank hing bedrohlich über dem Park.
    »Ich muss sie irgendwie lockern«, sagte Emilia und deutete auf das Häuschen. »Komm mit und hilf mir«, wandte sie sich dann an mich.
    Nestor, Najden, Pavle Kondratenko und der kleine Miroslav hatten keine Lust, sich uns anzuschließen. »Wir bleiben in der Nähe«, sagte Nestor. »Macht nicht zu lange.« Und sie entfernten sich über den lichtbeschienenen Rasen. Ich sah, wie Najden die Klette sich bückte und ein totes Einhorn, das neben einer Bank lag, am Bein packte und zum Zaun des Zoologischen Gartens schleifte.
    Wir gingen in das Häuschen. Dort hatte sich schon lange niemand mehr aufgehalten. Staub lag auf den wahllos herumstehenden Möbeln, auf den vergilbten Zeitungsstapeln, auf den Zeitschriften ohne Titelseiten, auf den in einer Ecke aufgehäuften Samentütchen und auf den überall herumliegenden Gartenwerkzeugen. Ein großer Nachtfalter klebte als dunkler Fleck neben der Glühbirne an der Decke. Plötzlich schloss meine Cousine Emilia die Tür und näherte sich mir.
    »Umarme mich«, sagte sie mit veränderter, dunkler gewordener Stimme.
    Ich umschlang sie. Sie zitterte.
    »Ich halte dieses Morden nicht mehr aus«, sagte sie. »Es ist abscheulich. Diese Tiere …«
    »Wir könnten abhauen«, schlug ich vor.
    »Nein«, sagte sie, »wir hauen nicht ab.« Und plötzlich näherte sie sich meinem Gesicht und küsste mich. Ihr Kuss war trocken, glühend und bitter; ihre Lippen brannten wie im Fieber. Ihre Augen glommen mit dem Schimmer erhöhter Temperatur, mit der Hitze von Kinderkrankheiten.
    »Komm«, sagte sie und zog mich zum großen schwarzen Sessel in der Ecke. »Wir hauen nicht ab. Es geht auch anders.«
    Ich küsste ihr Haar, ihr Ohr, ihren Hals. Sie schloss die Augen. Ich suchte die Knöpfe ihres Kleids, fand sie nicht, verhedderte mich. Sie kam mir zu Hilfe. Ihre Haut leuchtete mit schamlosem Glanz. Doch dann hielt ich inne und hob den Kopf: Mir war, als hätte ich ein Geräusch gehört.
    »Was ist?«, fragte sie. Ich zeigte zum Fenster. Sie schaute hin. Einige Einhörner hatten ihre Köpfe auf den Sims gelegt, pressten ihre Mäuler gegen die Scheibe und sahen uns an. Ihre schönen weißen Köpfe zeichneten sich gegen den Hintergrund der leuchtend blauen Mondnacht ab. Sie hatten die Köpfe gealterter Faune und naive, fast kindliche Gesichter, in denen die Bärte wie angeklebt wirkten. Mit unendlich traurigen, flehentlich bittenden Augen blickten sie uns an.
    »Kusch!«, schrie Emilia. »Kusch, haut ab, haut ab, ihr Idioten! Ich will euch hier nicht sehen! Verzieht euch! Abmarsch! Geht weg, geht weg, sie werden euch umbringen! Hört ihr, haut ab! Los, verschwindet! Ksch!«
    Die Einhörner standen da und verfolgten verständnislos jede ihrer Gesten, völlig unempfänglich für ihre Rufe. Sie starrten mit einer aberwitzigen Hartnäckigkeit zu uns herein
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