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Mein Vater der Kater

Mein Vater der Kater

Titel: Mein Vater der Kater
Autoren: Henry Slesar
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unterbrach mich mein Vater. »Was läßt dich so sicher sein, mein Sohn?«
    »Die Tatsache, daß sie eine großherzige Frau ist«, antwortete ich beherzt. »Sie hat ein feines College für Mädchen im Osten Amerikas besucht. Ihre Vorfahren waren robuste Leute, die viel auf Legenden und Folklore gaben. Sie ist eine warmherzige, sehr menschliche Person –«
    »Menschlich«, seufzte mein Vater, der Kater, und sein Schwanz zuckte. »Du erwartest zuviel von deiner Geliebten, Etienne. Selbst die beste aller Frauen dürfte angesichts der Gegebenheiten mit Bestürzung reagieren.«
    »Aber meine Mutter –«
    »Deine Mutter war eine Ausnahme, ein Kind der Feen. Du darfst in Joannas Augen nicht die Seele deiner Mutter suchen.« Er sprang von seinem Sessel, kam zu mir und legte mir eine Pfote aufs Knie. »Ich bin froh, daß du ihr nichts von mir erzählt hast, Etienne. Jetzt darfst du dieses Schweigen nicht mehr brechen.«
    Ich war entsetzt. Ich langte nach unten und berührte das seidenweiche Fell meines Vaters. Es bekümmerte mich, wie in seinen grauen, goldgesprenkelten Augen und in dem Hauch von Gelb, den sein weißes Fell zeigte, sein Alter sichtbar wurde.
    »Nein, mein Schnurrer«, sagte ich, »Joanna muß die Wahrheit erfahren. Sie soll wissen, wie stolz ich bin, der Sohn von Edwarde Dauphin zu sein.«
    »Dann wirst du sie verlieren.«
    »Nie und nimmer. Das wird niemals geschehen.«
    Mein Vater ging steif zum Kamin, starrte in die graue Asche. »Klingle bitte nach Francois«, sagte er schließlich. »Er soll Feuer machen, mir ist kalt, Etienne.«
    Ich ging zu der Klingelschnur und zog daran. Mein Vater wandte sich zu mir um und sagte: »Du mußt noch warten, mein Sohn. Vielleicht heute abend beim Essen. Bis dahin sag ihr nichts.«
    »Gut, Vater.«
    Ich verließ die Bibliothek und traf Joanna oben auf der Treppe. Sie sagte ganz aufgeregt: »Oh, Etienne, was für ein wunderschönes Haus! Ich weiß, daß ich es mögen werde. Können wir uns auch noch den Rest anschauen?«
    »Natürlich«, antwortete ich.
    »Du siehst besorgt aus. Stimmt etwas nicht?«
    »Nein, nein, alles in Ordnung. Ich dachte gerade, wie schön du doch bist.«
    Wir umarmten uns, und ihr warmer, voller Körper, der sich an den meinen drückte, bestärkte mich in der Überzeugung, daß nichts uns je trennen können würde. Sie hakte sich bei mir unter, und wir durchschritten die großen Räume des Hauses. Joanna war angesichts ihrer Größe und Eleganz vollkommen außer sich, stieß beim Anblick der Teppiche, verschnörkelten Möbelstücke, des alten Silbers und Zinns und der Galerie von Familienbildern kleine Entzückensschreie aus. Als sie ein frühes Porträt meiner Mutter entdeckte, umflorte sich ihr Blick.
    »Sie war wunderhübsch«, sagte sie. »Wie eine Prinzessin. Aber was ist mit deinem Vater? Gibt es von ihm kein Bild?«
    »Nein«, sagte ich schnell. »Kein Bild.« Ich hatte Joanna damit zum ersten Mal angelogen, denn es gab ein halb vollendetes Porträt, das meine Mutter in ihrem letzten Lebensjahr begonnen hatte. Es war ein leicht hingetuschtes Aquarell, und zu meiner Bestürzung entging es Joanna nicht.
    »Was für eine tolle Katze!« rief sie aus. »War das ein Haustier?«
    »Das ist Dauphin«, erwiderte ich nervös.
    Sie lachte. »Die Katze hat deine Augen, Etienne.«
    »Joanna, ich muß dir etwas sagen –«
    »Und dieser grimmige Herr da mit dem Schnurrbart? Wer ist das?«
    »Mein Großvater. Joanna, du mußt mir jetzt mal zuhören –«
    Francois, der uns auf unserem Rundgang wie ein Schatten gefolgt war, fiel mir ins Wort. Ich hatte den Verdacht, daß er den Augenblick nicht zufällig gewählt hatte. »Es wird um halb acht aufgetragen«, sagte er. »Wenn die Dame sich noch umziehen möchte –«
    »Aber natürlich«, sagte Joanna. »Entschuldigst du mich bitte, Etienne?«
    Ich verbeugte mich, und schon war sie weg.
    Eine Viertelstunde vor dem Abendessen war ich fertig und eilte nach unten, um noch einmal mit meinem Vater zu sprechen. Er war im Eßzimmer und gab den Dienern Anweisungen, wie der Tisch zu decken sei. Mein Vater war auf die Erstklassigkeit seiner Tafel stolz und nahm alle Mahlzeiten in großem Stil ein. Eine solche Wertschätzung des Essens und Trinkens hatte ich bei anderen nie erlebt, und es war mir immer ein großes Vergnügen gewesen, ihm bei Tisch zuzuschauen, wie er über den Damast stolzierte und aus den Silberschälchen all das aß, was für ihn zubereitet worden war. Jetzt tat er so, als wäre er viel zu
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