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Mein Leben in 80 B

Mein Leben in 80 B

Titel: Mein Leben in 80 B
Autoren: Anja Goerz
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Botoxgefährtinnen, Shoppingberaterinnen oder Diätassistentinnen. Kinder hatte sie nicht, und zu ihrer Familie hatte sie seit Jahren kaum noch Kontakt. Ihre Eltern waren mit der Ehe nicht einverstanden gewesen und nicht einmal zu der pompösen Hochzeitsfeier erschienen.
    Nun stellte sich heraus, das Sylvia in all den Jahren, in denen bei ihr alles um die richtige Figur, die richtigen Klamotten und das richtige Aussehen gegangen war, komplett vergessen hatte, was für
sie
das Richtige war. Und jetzt war Sylvia richtig allein.
    Ich legte meinen Arm um sie, als sie wieder zu schluchzen begann. «Jetzt leg dich erst einmal hin und schlaf dich aus. Morgen überlegst du dann, ob du nicht vielleicht in deiner Ehe auch einige Dinge falsch gemacht hast. Ich bin sicher, dass dein Mann nichts dagegen hat, sich noch einmal mit dir hinzusetzen und darüber zu sprechen.»
    «Aber ohne Gundula.»
    «Ja, selbstverständlich ohne Gundula.»
    «Hach.» Sylvia schnäuzte sich wie ein Waldarbeiter in eine meiner gestärkten Festtagsservietten. «Ich weiß gar nicht, ob ich ihn wiederhaben will. Es war wirklich bequem, immer genug Geld zu haben und nie darüber nachzudenken, was ich kochen soll. Aber manchmal habe ich dich um deine Familie, deine Kinder und deinen Job beneidet.»
    «Um die Dessous-Partys?» Wieso mich jemand um diesen Job beneidete, konnte ich wirklich nicht verstehen. Berufe zum Neidischwerden waren doch eher Chirurgin oder Polarforscherin.
    «Ja, das ist doch ein tolle Sache: Du bist umgeben von himmlischer Wäsche und verdienst damit auch noch Geld. Das muss dich unglaublich zufrieden machen.»
    Dass Sylvia noch nie die hellste Kerze auf der Torte gewesen war, war mir klar, aber für derart oberflächlich hatte ich sie nicht gehalten.
    «Sylvia, ich mache diesen Job nur, weil er sich prima mit dem Familienleben vereinbaren lässt. Ich kann selbst bestimmen, wann und wie viel ich arbeite. Wenn eins meiner Kinder krank ist, rufe ich die Gastgeberin eben an und verschiebe die Party auf einen anderen Abend. Natürlich macht mir das auch Spaß, aber ursprünglich hatte ich ganz andere Träume.»
    Sylvia hatte sich inzwischen vom Esstisch den Teller mit der angegessenen Nachspeise geholt, die Toni dort hatte stehen lassen, und schaufelte sich den Rest in einem Affentempo in den Mund. Anscheinend hatte sie Angst, sich bald auch kein Essen mehr kaufen zu können.
    «Efft?? Waff wollteft du denn ma machen?», nuschelte sie zwischen Vanilleeis und Brocken von Schokoladenkuchen.
    «Eigentlich wollte ich Fotografin werden.»
    «Ftimmt. Jepft erinner ich mich.» Sie schluckte das Dessert herunter. «Du hast doch damals diese coolen Bilder von unserer Abschlussparty gemacht. Mensch, sahen wir da noch alle gut aus. Nicht eine Falte hatte ich und eine Haut zum Niederknien.»
    «Daran hat sich doch nichts geändert.»
    Sylvia wollte sich gerade wieder den Löffel in den Mund schieben, doch dann musste sie unfreiwillig kichern. «Stimmt, aber heutzutage habe ich das glatte Gesicht nicht meiner Jugend zu verdanken, sondern dem Konto meines Mannes … oder Exmannes?» Sie schaute mich unglücklich an, wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen.
    «Willst du mehr Schokoladenkuchen? Es ist bestimmt auch noch Vanilleeis da. Wenn du möchtest, kann ich die Torte ein bisschen warm machen.» Essen war doch immer eine gute Medizin. Aber zu spät, die Tränen kullerten bereits, bevor ich aufgestanden war.
    «Ich habe es gar nicht verdient, dass du so nett zu mir bist. All die Jahre habe ich mich immer nur darum gekümmert, Geld auszugeben und schön zu sein. Und nun sitze ich hier und heule, weil mein Mann mich mit einer fetten alten Schachtel betrügt und ich das keiner meiner Freundinnen erzählen kann, weil die mich alle auslachen würden.» Sie schwang ihre Gabel in meine Richtung. «Scheiß auf die Kalorien und die schlanke Linie. Gib mir eine doppelte Portion von deinem Kuchen und Schlagsahne auch, wenn welche da ist. Jetzt fängt ein neues Leben an!»

[zur Inhaltsübersicht]
    Einige Monate später
    Der Wind war so eiskalt, dass mir die Augen tränten. Die Böen zerzausten mein Haar, und ich ärgerte mich, dass ich die Mütze bei Elissa vergessen hatte, als ich zu meinem Spaziergang am Meer aufgebrochen war. Zwar hatte ich mich in meine wärmste Jacke gekuschelt und die unsexy Skiunterwäsche angezogen, aber der Nordseewind war einfach mächtiger als jedes Kleidungsstück, das ich in meinem Schrank hatte. Dennoch genoss ich das Gefühl
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