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Mein glaeserner Bauch

Mein glaeserner Bauch

Titel: Mein glaeserner Bauch
Autoren: Monika Hey
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Kind vielleicht doch ein Mädchen? Eine alte Freundin der Familie fiel mir ein, Schulfreundin meines Vaters, die dem frischgebackenen Tochtervater am Tag meiner Geburt im Dorf begegnet war. Fröhlich sei er an ihr vorbeigeradelt und habe gerufen: »Wir haben ein Mädchen, wir haben ein Mädchen!«
    In den nächsten Tagen ging mir der Traum mit der Geburtsanzeige nicht mehr aus dem Kopf. Wie zuvor mit Leon, begann ich mich jetzt gedanklich mit Lea zu beschäftigen.
    Selbst bei der Arbeit war ich zeitweise eingesponnen in meinen Schwangerschaftskokon. Berufliche Themen erschienen mir nebensächlich. Ich spürte mich in Konferenzen nach Innen lächeln und war nur noch mit halbem Ohr auf die Welt draußen konzentriert. Es gab Momente, da fühlte ich mich unverwundbar.
    Ich freute mich darauf, mich mit meinem Kind wieder spielerisch auf Gefühle der Kindheit einzulassen. Andere Prioritäten zu setzen als die im Berufsalltag üblichen. Ein neues Zeitalter war für mich angebrochen. Und ich war entschlossen, alle guten Geister zu beschwören, dass sie mir beistehen. Den Geburtstermin zu Weihnachten nahm ich als untrügliches Zeichen dafür, dass alles unter einem guten Stern stand.
    Schwanger-schwärmerisch recherchierte ich den Namen meines ungeborenen Kindes und stieß dabei auf ein biblisches Zitat, das mich erschreckte: »Lea hatte ein blödes Gesicht«. 15 War nicht blöd früher ein Ausdruck für geistig behindert? Wegen Schmerzen in der Brust war ich in der sechsten Schwangerschaftswoche in der gynäkologischen Praxis erschienen und mit einem Rezept gegen Mastopathie und einer Überweisung zur Mammographie nach Hause gegangen. Schwere Koffer auf der Reise nach London hatte mein Kind schon überstanden, und die Röntgenstrahlen der Mammographie hatten ihm, guter Gott, bitte auch nichts antun können. Ich war zum ersten Mal beunruhigt und ärgerte mich über meine allzu ausufernde Namensforschung.

    Ich sprach im Stillen mit meinem ungeborenen Kind und ich war glücklich über jedes Zeichen, das meine gute Hoffnung nährte. Im Grunde neige ich nicht zu magischem Denken. Doch ich erinnere mich gut daran, wie anders ich damals die Welt und mich in meiner neuen Realität wahrgenommen habe.
    »Hinter dem scheinbar alltäglichen Ereignis, in anderen Umständen zu sein, verbirgt sich ein psychisch bedeutsamer Wendepunkt, ›a point of no return‹«, schreibt die Soziologin und Psychoanalytikerin Gertraud Diem-Wille. Denn durch die Schwangerschaft werde eine Umgestaltung der inneren Welt der Schwangeren in Gang gesetzt. Dies sei ganz unabhängig davon, ob es tatsächlich zur Entbindung eines lebenden Kindes kommt oder ob eine Fehlgeburt, ein Schwangerschaftsabbruch oder eine Totgeburt erfolgt. 16
    Eine Schwangerschaft ist immer eine Zeit der Neuorientierung, eine Anpassungsleistung an eine fundamental veränderte Situation. Diese für Frauen äußerst sensible Lebensphase beschreibt auch die Hebamme und Ethnologin Angelica Ensel als eine Schwellensituation, als Zeit des Übergangs von einem sozialen Status in einen anderen. Frauen erleben sie sowohl als Phase des Übergangs als auch der Gefährdung. Hormonelle Vorgänge in der Schwangerschaft bewirken körperliche und seelische Veränderungen, die bei Schwangeren wechselnde, durchaus auch widersprüchliche Gefühle auslösen. Es ist ein Wachstums- und Reifeprozess, der durch erfahrene Begleitung gefördert werden kann. Der entscheidende Schritt heißt, sich auf das neue Unbekannte einzulassen, vor allem auf die für das Kind lebensnotwendige Symbiose. 17
    Schwangere sind von Natur aus in einem Zustand der Offenheit, Unsicherheit und großen Sensibilität, denn schwanger sein heißt auch, einen Teil der Kontrolle über den eigenen Körper abzugeben, schreibt Angelica Ensel. Um diesen Wandel leichter zulassen zu können, wurden und werden schwangere Frauen in traditionellen Kulturen von erfahrenen mütterlichen Vorbildern angeleitet, die sie auch durch Gebete und Rituale dem Schutz höherer Mächte anvertrauen.
    In der Ethnologie werden rituelle Verrichtungen, die zur Ab sicherung eines ungeschützten, undefinierten Zwischenzustands dienen, Übergangsrituale genannt – rites de passage . Hinter diesen Ritualen steht die Überzeugung, dass der Einzelne, auf sich allein gestellt, überfordert ist, wenn der Übergang in eine neue Identität von besonderer sozialer Bedeutung und darüber hinaus noch gefährlich ist. Der Übergang kann dann nicht mehr individuell vollzogen,
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