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Mein digitales Ich

Mein digitales Ich

Titel: Mein digitales Ich
Autoren: Ariane Christian u Greiner Grasse
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über sein Ich verraten haben, als ihm lieb war. Als seine Freundin, Selbstvermesserin wie er, ihm eines Tages ihre Datenkurve zur Sexfrequenz zeigte. Und dann, anstatt ihn zur Rede zu stellen, nur stumm auf seine deutete. Und plötzlich sichtbar wurde, was sonst vermutlich in Ray Smiths Unterbewusstsein vergraben worden und nie ans Licht gekommen wäre: ein Punkt zu viel in seiner »Sexfrequenz«-Kurve! Das analoge Ich wurde gewissermaßen vom digitalen eingeholt. Und hinterließ eine bleibende Spur, nicht nur digital.
    Das Beispiel aus dem Privatleben eines Selbstvermessers zeigt im Kleinen, was auch im Großen gilt: Die Digitalisierung des Ich birgt immer auch die Gefahr, dass Informationen zu Stellen durchsickern, für die sie nicht bestimmt waren. Dazu muss nicht einmal Datenmissbrauch im klassischen Sinne vorliegen. Selbst wenn gegen keine Datenschutzrichtlinie verstoßen wurde, kann es passieren, dass andere mehr von mir erfahren, als mir lieb ist – aufgrund von Arglosigkeit oder aufgrund einer Überforderung im Informationsmanagement (wer darf was wissen und wer was besser nicht?) oder aufgrund von Algorithmen, die die Informationen in einer Weise verteilen, die ich nicht mehr überblicken kann.
    Besonders brisant werden die Themen Echtheit und Persistenz, wenn nicht mehr ich es bin, der postet, was er gerade macht, sondern die Technik selbst. Wenn »machendes Ich« und »editierendes Ich« nicht mehr identisch sind, weil letzteres vom Algorithmus abgelöst wurde, der ein automatisches Posten meiner Statusmeldung veranlasst. »Frictionless sharing« – »reibungsloses Teilen« nennt sich das automatische Veröffentlichen in sozialen Netzwerken. Im Kapitel neun gehen wir darauf näher ein.
Das Selbst? — Mein Selbst!
    Ob es sich bei dem eigenen Selbst/Ich um etwas im Kern Unerschütterliches handelt, das je nach Kontext nur um Aspekte erweitert oder verändert wird, oder ob es eine chamäleonartig je nach Umgebung wechselnde Verkörperung einer Idee ist, diese Frage mag Persönlichkeitspsychologen und Philosophen beschäftigen. Das Interesse des Selbstvermessers am eigenen Ich, an der eigenen Persönlichkeit, das Streben nach Selbsterkenntnis, genauer, nach Erkenntnis darüber, wer und wie ich in Relation zu den anderen bin, bahnt sich seine Wege außerhalb der wissenschaftlichen Arena: mitten im Alltagsleben. Viel mehr als die theoretische Frage nach der Beschaffenheit des Selbst des Menschen interessiert mich als Selftracker, wie es um mein Selbst bestellt ist. Ich messe, was ich bin, und ich bin, was ich messe. Und möglicherweise kristallisieren sich mit der Zeit aus der Fülle der dokumentierten Wechselwirkungen zwischen meinem Körper bzw. meiner psychischen Verfasstheit einerseits und dem jeweiligen Kontext, in dem ich mich befinde, andererseits bestimmte Muster heraus, aus denen ich dann so etwas wie ein Selbst-Verständnis ableiten kann. Selftracker sind sich der prinzipiellen Abhängigkeit ihrer körperlichen und seelischen Verfasstheit vom jeweiligen Kontext bewusst, ohne dadurch jedoch in Spekulationen über die Frage zu verfallen, ob sie denn nun über ein »wahres Selbst« verfügen oder nicht.
    Insofern ist Quantified Self ein Eldorado für alle Suchenden nach Selbsterkenntnis. Nie war es so einfach wie heute, einen Blick ins Innere des Ich-Apparats zu bekommen, zu verstehen, wie man selbst tickt, warum man auf dies und jenes so oder so reagiert. All die kleinen, leicht handhabbaren, technisch simplen und daher kostengünstigen Sensoren, Apps, Gadgets und Devices erlauben mir einen Einblick in Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, der zuvor undenkbar gewesen wäre. Überzeugte Quantified Selfer schwärmen, man könne durch das Sammeln von Daten wie IQ-Wert, Hautwiderstand, Lungenkapazität, Blutzuckerwerte, Schrittanzahl, Puls usw. »den Geist in den Zahlen sichtbar machen«. Quantified Self sei für ihn, so ein Selbstvermesser, »wie ein Blick in den digitalen Spiegel. Das digitale Spiegelbild meines eigenen Selbst sozusagen.« 30
Eine neue Idee von Normalität
    Selftracker bekommen von Nicht-Selftrackern oft zu hören, sie seien narzisstische Egozentriker, die nur um sich selbst kreisten. Das ist in der Regel nicht der Fall. Dem Selbstvermesser geht es durchaus um den Austausch mit der Community; im Teilender eigenen Körperdaten mit anderen Selftrackern kann man ohne Weiteres einen sozialen Akt sehen. Das digitale Ich, der Datenkörper, wird über den Austausch im Internet sozusagen wieder ans
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