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Mehr als ein Sommer

Mehr als ein Sommer

Titel: Mehr als ein Sommer
Autoren: Ann Eriksson
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zur Erde fiel. Oder an welcher Stelle die Socke mit gestohlenen Bonbons in der Ecke von Trevors Schrank versteckt war. Gott war nicht glücklich, wenn Trevor sich mit seinem Bruder stritt. Und Er würde nicht glücklich sein, wenn Er erführe, auf welche Weise Babys gemacht wurden. Als die Glocke erklang, die zum Abendessen rief, war Trevor aus seinem Versteck hinter dem Getreidespeicher gekrochen und hatte eine neue Welt voller Mysterien und Gefahren betreten.
    Das Gewicht des Grauens dieser neuen Erkenntnis lastete so schwer auf ihm, dass er unfähig war, einen Bissen herunterzubringen, er hatte sein Essen lustlos auf dem Teller hin und her geschoben und aufmerksam seine Eltern beobachtet, um Hinweise zu finden. Nach seinem obligatorischen Bad am Samstagabend, bei dem er verhalten über sein im Wasser treibendes Anhängsel sinniert hatte, hatte seine Mutter ihm seinen Lebertran verabreicht, ihn ins Bett gesteckt, zugedeckt und ihm einen Gutenachtkuss gegeben. Seine Kleidung für die Kirche hatte sie noch ordentlich über die Rücklehne des Stuhls gehängt. Nachdem sie das Licht gelöscht und die Tür geschlossen hatte, wobei ihr Ausgehkleid leicht geraschelt hatte, war sie ins Bad gegangen, um einen Hauch von Lippenstift aufzulegen und sich dann mit ihrem Ehemann auf den Weg zum allmonatlichen Tanzabend im Dorfsaal zu machen.
    Kurz nach Mitternacht hatte das Kindermädchen Trevor mit der Nachricht geweckt, dass seine Eltern nur zehn Minuten von der Farm entfernt bei einem Frontalzusammenstoß ums Leben gekommen waren. Trevor hatte sofort und ohne jeden Zweifel verstanden, was geschehen war, und sich am Fußende seines Bettes zu einer Kugel zusammengerollt. Erst als Brent zu ihm gekrochen war und das Oberbett über ihrer beider Köpfe gezogen hatte, erst da hatte er sich zu weinen erlaubt. Gott der Allmächtige war vom Himmel herabgestiegen, um seine Mutter und seinen Vater für ihre Sünden zu bestrafen — für ihre beiden Sünden, Trevor und Brent.

    Ein kindliches Wirrwarr von Gefühlen überkam Trevor und machte ihn sprachlos, als Constance ihm ihre Offenbarung machte. »Mein lieber Junge, Sie sehen aus, als würden Sie sich jeden Moment übergeben«, sagte sie. »Ich habe sie nicht umgebracht, falls Sie das denken. Nein, es ist ihre Asche. Ich habe ihre Asche da drin.«
    Trevor war verlegen, weil er so heftig reagiert hatte, und kämpfte darum, seine Kontrolle wiederzuerlangen, während die alte Frau ruhig dasaß und die drei verstörenden Behälter aufgereiht zwischen ihnen auf der Bank standen. Er wusste nicht warum, aber überraschende Verkündungen hatten diese Wirkung auf ihn, sie machten ihn zittrig und erzeugten Übelkeit in ihm. Er wandte seinen Kopf und konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren heller, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, und sahen ihn so herausfordernd aufrichtig an, dass er sich schämte.
    »Das liegt am Jetlag«, gelang es ihm schließlich hervorzuquetschen. »Ich habe die letzte Nacht auf einer Bank auf dem Flughafen von Toronto zugebracht.«
    »Ich hätte es Ihnen nicht erzählen dürfen.« Sie griff abermals in die Tasche, und er erschauerte, aber sie holte lediglich eine Flasche Wasser heraus und hielt sie ihm hin.
    Er griff danach, setzte sich etwas entspannter hin, drehte den Verschluss ab und nahm einen Schluck. »Sie haben nur Spaß gemacht, nicht wahr?«
    Constance schüttelte den Kopf und zeichnete mit dem Zeigefinger ein unsichtbares X über ihre Brust. »Großes Indianerehrenwort.«
    Brents Gesicht — er hatte seit Jahren nicht mehr an seinen Bruder gedacht, nicht mehr, seit die Briefe zurückkamen mit dem Vermerk Anschrift unbekannt — schwamm wie ein träger Fisch durch Trevors Gedächtnis, und er schüttelte den Kopf wie ein Hund, der sich das Wasser aus den Ohren schüttelt. Der innere Drang davonzurennen war überwältigend. Er widerstand ihm und kämpfte darum, seine Gefühle im Griff zu behalten, diese gefährlichen und unberechenbaren Mächte. Außerdem befürchtete er, bei einer Flucht doch nur wieder auf die Nase zu fallen, so wackelig und unzuverlässig wie seine Beine waren.
    »Drei Ehemänner?«, fragte er stattdessen. Er krächzte wie ein Teenager im Stimmbruch. »In Plastikdosen?« Er räusperte sich, damit sich seine Stimmbänder etwas entspannten. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.« Er fühlte sich, als habe er luftleeren Raum betreten, und die Reize, die dabei auf ihn einstürmten, erinnerten ihn zum zweiten Mal an Brent; diesmal
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